»Politiker rein in Tür, Politiker raus aus Tür, Politiker Treppe rauf, Politiker Treppe runter, Politiker winkewinke, Politiker lächellächel, Politiker auf Mikrofon zu, so geht das den ganzen Tag... He, was du sprechen zu uns, Politiker?« Ilse Wehrmann rein in Tür, Jürgen Zimmer hinterher. Beide auf Mikrofon zu. Sprechen Frau und Mann, welche viel für Kinder denken und machen. Mikrofon auf:
Ilse Wehrmann
Ob wir wirklich mit der Koalition eine neue Epoche in der Familienpolitik eingeleitet haben, bleibt abzuwarten. Dass die CDU-Ministerin von der Leyen für ein Elterngeld nach schwedischem Modell eintritt und sagt, es wird nur gezahlt, wenn auch die Männer Kinder betreuen, weil sie es lernen sollen – das ist ein Zeichen, denke ich. Aber damit sind wir noch längst nicht über den Berg. Es wird aus allen Parteien – möglicherweise auch von Frauen – Widerstände gegen so ein Familienbild geben.
Wir haben in Deutschland gegenwärtig zwei Probleme: ein Vereinbarkeits- und ein Bildungsproblem, vor allem im frühkindlichen Bereich. Beides hat seine Ursache im Festhalten am traditionellen Mutterbild. Für ein aufgeschlossenes Familienbild gibt es keinen Konsens in Deutschland. Da hängen wir zwanzig Jahre hinterher. Wenn wir jetzt ein Familiengeld einführen und nach einem Jahr nichts folgt, keine Infrastruktur, kein Rechtsanspruch auf einen ganztägigen Kindergartenplatz – dann war dieses Jahr umsonst, und wir landen endgültig in der Sackgasse.
Von den Schweden lernen heißt, die Infrastruktur ausbauen. Schweden ging diesen Weg, führte eine befristete Mehrwertsteuer nur für diesen Bereich und den kostenlosen Kindergarten ein, schaffte das Essengeld für sozial Benachteiligte ab. Das haben wir noch vor uns.
Nun kann man sagen: Wir können nicht alles auf einmal bewältigen. Aber ich denke, dass jetzt die ganze Wahrheit auf den Tisch muss. Wir müssen schauen, wie wir mit einer nationalen Kraftanstrengung tatsächlich alles auf einmal bewerkstelligen. Wenn wir schon Geld ausgeben, um den Reformstau in Deutschland aufzuheben, dann stört mich die Fokussierung auf Grundschule, Schule und Forschung, obwohl es zweifelsohne nötig ist, in diesen Bereichen etwas zu tun. Aber wir bauen Schlösser auf Sand, wenn die ersten sieben Jahre keine Priorität haben.
Reform: planmäßige Umgestaltung, Verbesserung, Neuordnung des Bestehenden; gezielte, die Legalität wahrende Umgestaltung politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen. Staatliche Reformpolitik hat in der Regel das Ziel, ein bestehendes politisches System an veränderte politische oder gesellschaftliche Bedingungen anzupassen.
Wahrscheinlich muss man diese Erkenntnisse Politkern intravenös spritzen oder sie an einen frühpädagogischen Tropf legen. Wir haben nicht die Wahl, weiterzuschlafen. Das muss die Bundeskanzlerin zur Kenntnis nehmen und die Angelegenheit zur Chefsache machen, weil es nicht sein kann, dass 40 Prozent der Akademikerinnen und 60 Prozent der Akademiker sich gegen Kinder entscheiden. Dringend brauchen wir einen Mentalitätswechsel zugunsten von Kindern, und wir müssen mit dieser Forderung die Nische der Pädagogik verlassen. Sie muss zu einem gesamtgesellschaftlichen Anliegen werden, weil Kinderpolitik Wirtschaftspolitik und Zukunftspolitik ist.
Alle Länder um uns herum haben das erkannt. Nur in die hiesigen Köpfe geht es nicht rein, und an vielen Stellen rumort es sogar: Das Frauenbild der Ministerin von der Leyen sei zu modern und positiv, Kinder nähmen Schaden, wenn sie in öffentlichen Betreuungseinrichtungen stecken und ihre Mütter berufstätig sind. Meine Güte! Wenn wir wieder in eine derart mittelalterliche Diskussion verfallen, dann hat unser Land wahrhaftig keine Zukunft. Zukunft haben wir nur, übrigens auch im Hinblick auf die Senkung der Scheidungsquote, wenn Frauen und Männer zufrieden sind. Deshalb brauchen wir sinnvolle Politik für Frauen und Männer, nicht nur für Frauen.
Mich stört auch, dass ständig gesagt wird: Bildung fängt erst mit der Schule an. International wird das Alter von null bis zwölf, in Schweden sogar bis 19 Jahren zunehmend als Einheit gesehen. Zu dieser Sicht müssen wir kommen, und das erfordert eine gesamtgesellschaftliche Offensive aller Kräfte – Gewerkschaften, Arbeitgeber, Kirchen. Dabei muss die Bundeskanzlerin vorangehen, und die ehemals zuständige Ministerin, Frau Schmidt, hat dafür eine gute Grundlage geschaffen. Allerdings sind viele der unter ihrer Ägide entstandenen Bündnisse Lippenbekenntnisse geblieben.
Offensive: durch Ergreifen der Initiative gekennzeichnete allgemeine Grundhaltung im strategischen Sinne.
Gegenwärtig erlebe ich, dass die Finanzkraft der Kommunen über die Entwicklung von Kindern entscheidet. In diesem Bereich wird uns der Föderalismus noch mal das Genick brechen. Ich komme aus Bremen, einer Kommune, die auch kein Geld mehr hat. Die Folge: In sozialen Brennpunkten und dort, wo Mütter nicht berufstätig sind, baut Bremen Ganztagsplätze ab, und die Kinder müssen mittags nach Hause gehen. Freizeitheime werden in diesen Stadtteilen geschlossen, Jugendbibliotheken auch. Das ist die schlimmste Ausgrenzungspolitik, die man sich überhaupt vorstellen kann. Da tickt eine Zeitbombe in Deutschland...
Kindern Bildung vorzuenthalten – aufgrund langer Arbeitslosigkeit der Eltern und damit einhergehender Armut – das ist skandalös. Hier muss der Bund Rahmenbedingungen für die Länder schaffen, die das ausschließen. Der Bund muss zuständig für Qualitäts- und Ausbildungsstandards, für Rahmenbedingungen und Qualitätskontrolle sein. Das ist das Minimum gesetzgeberischer Kompetenz.
Ich glaube nicht, dass die 16 Bildungspläne uns voranbringen, denn der Acker ist nicht bereitet, um sie flächendeckend umzusetzen. Wir haben keine Bedingungen, um sie einzuführen, keine Implementierung, und es fehlt an der Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch um dieses Problem zu lösen, ist eine nationale Kraftanstrengung nötig. Nicht, dass jeder Träger sein eigenes Fortbildungsprogramm auflegt. Wir brauchen ein bundesweites Programm, an den Rahmenbildungsplänen ausgerichtet, mit einem nationalen Bildungskatalog als Minimalkonsens.
Leider zeigt sich immer deutlicher: Wir haben keine Visionen für Familien- und Kinderpolitik, für Bildungspolitik. Dies tut aber Not, wenn Deutschland in Europa wieder die dritte Stelle einnehmen soll, wie Frau Merkel in ihrer Regierungserklärung ankündigt. Da haben wir viel zu tun, und es wird Geld kosten. Dieses Geld müssen wir in die Hand nehmen.
Vision: Idee oder Vorstellung für die Zukunft, Zukunftsperspektive.
Es wurde bei uns noch nie so viel über Bildung, sogar über frühkindliche Bildung, gesprochen wie zur Zeit. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf war noch nie so deutlich auf dem Tapet. Und: Es diskutieren andere Leute als bisher. Breitere Bevölkerungsschichten und Männer reden mit, Wirtschaftsfachleute, die schon Großväter sind, das Defizit bei ihren Enkeln sehen und erkennen, dass Deutschland als Wirtschaftsstandort gefährdet ist, wenn es nicht wieder Bildungsstandort wird.
Für gut ausgebildete Frauen hat die Politik in Deutschland keine attraktiven Modelle in petto. Das gilt vor allem für die großen Parteien und für die CDU am meisten. Sie hat den Frauen im Hinblick auf die Ausübung ihrer Berufe nichts zu bieten. Keine Frau kann den Beruf an den Nagel hängen, weil das Familieneinkommen nicht reicht. Außerdem käme sie nicht wieder rein, wenn sie Pause machte. Das weiß doch jeder!
Ich denke, dass der Boden für einen Konsens in Sachen Kinder gut bereitet ist: bei den Kirchen, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern. Wir brauchen einen großen Runden Tisch, vielleicht auch eine Sondersitzung der Ministerpräsidenten – wie in Schweden – zum Thema »Reformbedarf«. Mein größter Wunsch wäre, dass Frau Merkel die Verantwortlichen an diesen Tisch holt und mit ihnen ein Bündnis für Kinder schmiedet.
Konsens: Übereinstimmung der Meinungen oder Standpunkte. Übereinstimmung einer politisch-sozialen Gemeinschaft in ihrem Wertesystem, in übergreifenden Solidaritätsgefühlen oder in politischen Grundüberzeugungen.
www.bundeskanzlerin.de
Einmalig: Eine weibliche Kanzlerin mit weiblicher Webseite. Ob auch einmalig gut, wissen wir später.
www.ilse-wehrmann.de
Die Webseite mit weiteren Informationen zu Ilse Wehrmann.
www.zitate.de
Wohl eine der tollsten Seiten zum Thema »Zitate«. Geben Sie Stichworte wie »Vision«, »Konsens« oder »Revolution« ein. Bei »Reform« findet sich zum Beispiel der Kernsatz des Gemahls von Königin Elisabeth II.: »Es ist unmöglich, Staub wegzublasen, ohne dass jemand zu husten anfängt.«
www.bessereweltlinks.de
Viele Links für alle, die über den Tellerrand schauen wollen. Zu Themen wie: Bildung, Eine Welt, Frauen, Frieden, Gesundheit, Konfliktregionen, Kultur, Männer, Menschenrechte, Militär, Nachrichten, Politik, Religionen, Soziales, Umwelt, Wirtschaft...
www.kinderpolitik.de
Politik für und mit Kindern zu betreiben bedeutet, sich in viele Bereiche einzumischen und sie im Sinne der Kinder zu beeinflussen – die »Informationsstelle Kinderpolitik« bietet eine breite Palette von Arbeitshilfen für Interessierte.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/06 lesen.