Beobachtungen aus dem Alltag mit den Jüngsten: Corinna Westphal beschreibt, was Kinder können, wenn man sie lässt, und was Erwachsene zum Freudestaunen1 bringt, wenn sie Zeit finden, Kinder zu be(ob)achten.
Lotta ist ein Jahr und acht Monate alt. Sie besitzt eine Trinkflasche, die sie jeden Tag mit in die Kita bringt. Solange Lotta nicht nach ihrer Trinkflasche verlangt, bleibt sie in ihrem Fach.
Ein Rückblick
Mit sieben Monaten kam Lotta zu uns in die Krippe. Wir waren auf ihre Körpersprache angewiesen, um zu verstehen, wann sie durstig war, denn verbal konnte sie uns das noch nicht mitteilen. Eine gute und vertrauensvolle Beziehung zueinander ermöglichte es uns, ihren Grundbedürfnissen ohne weitere Zwischenfälle nachzukommen.
Die orale Entwicklungshase – nach Erik Erikson2: »Ich bin, was man mir gibt« – hat Lotta inzwischen hinter sich gelassen. Sie befindet sich nun in der analen und damit zweiten Entwicklungsphase: »Ich bin, was ich will.«
Was Lotta kann
In der Zwischenzeit hat Lotta in ihrer Entwicklung einen Meilenstein nach dem anderen genommen. Einige seien hier kurz aufgeführt: Seit etwa einem halben Jahr läuft sie stabil, sie schaukelt, klettert und rutscht gern, sie isst und trinkt seit fast einem Jahr selbstständig, sie spielt sehr gern mit anderen Kindern, sie hält den Malstift immer mit ihrer rechten Hand, sie kann sich schon seit langem ihre Mütze selbst auf- und absetzen, sie versteht die deutsche Sprache, sie kann ihre Bedürfnisse seit einigen Monaten mit einzelnen Wörtern und seit kurzem in Mehrwortsätzen verbal äußern, Dinge kommentieren, Fragen beantworten, von Erlebtem berichten – kurz: Sie kann sich mit uns und den Kindern unterhalten.
Einen bedeutenden Teil von Lottas Entwicklung macht die Erweiterung ihrer Kognition aus. Jedes Wort, das sie hört und spricht, jede Handlung, die sie sieht und selbst ausführt, wird in ihrem Gehirn mit alten Informationen verglichen und neu integriert. Mit jedem weiteren Gebrauch bestimmter Hirnzellen verstärkt sich ein Netz an Verknüpfungen in Lottas Gehirn und damit auch Lottas Verständnis für Sprache, für Dinge und für Handlungen in ihrer Welt.
Beobachten und verarbeiten
Jedes Mal, wenn Lotta durstig ist, bekommt sie ihre Trinkflasche. So lange sie noch nicht krabbeln oder laufen konnte, wurde sie zu ihrem Fach getragen – immer und immer wieder – und beobachtete neugierig unsere Handlungen: Fachklappe öffnen, leere Hand hinein, Hand mit Trinkflasche heraus, Trinkflasche Lotta geben, Fachklappe schließen. Diese Handlungen unterstrichen wir meist verbal. Lotta nahm sowohl visuelle als auch auditive Informationen wahr, die im Gehirn integriert wurden.
Irgendwann krabbelte Lotta mit uns zu ihrem Fach – immer und immer wieder – und beobachtete unsere Handlungen: Fachklappe öffnen, leere Hand hinein, Hand mit Trinkflasche heraus, Trinkflasche Lotta geben, Fachklappe schließen. Lottas Gehirn konnte diese Informationen bereits als »bekannt« einordnen.
Nachdem sie ihren Durst gestillt hatte, stellte sie ihre Trinkflasche auf dem Fußboden ab und begann, die umliegenden Fächer der anderen Kinder zu untersuchen. Neue Wahrnehmungen werden nun und in den nächsten Wochen an Lottas Gehirn weitergeleitet: Es gibt viele Fächer, nicht nur Lottas. Jedes Fach hat die gleiche Größe. Jedes Fach ist viereckig. Jedes Fach unterscheidet sich optisch vom anderen, denn jedes Fach ist mit einem individuellen Namensschild eines Kindes und mit seinem Foto gekennzeichnet.
Irgensdwann lief Lotta mit uns zu ihrem Fach, um ihre Trinkflasche zu holen – immer und immer wieder. Ihr Gehirn steckte voller Informationen, die in den letzten Monaten, Wochen und Tagen sorgsam wahrgenommen integriert worden waren. Lottas Kognition war jetzt so weit gereift, dass sie genau wusste, wo ihre Trinkflasche steht, wo ihr Fach ist, und wie das Fach zu öffnen und wieder zu schließen ist. Das kann Lotta nämlich seit einiger Zeit selber tun.
Freudestaunen
Lotta kommt fröhlich auf mich zu und ruft: »Lotta trinken, Lotta Flasche. Gunga, komm.« Leider habe ich gerade viel zu wenig Hände und Beine, um den Wünschen und Bedürfnissen aller Kinder gleichzeitig nachkommen zu können. Also muss Lotta zurückstecken, wenn sie nicht allein und selbstständig von ihrem bisher aufgebauten Wissen, ihrer Bewegungsentwicklung und ihrem Selbstvertrauen Gebrauch machen möchte. Ich stelle Lotta vor die Wahl: Entweder sie wartet, bis ich Zeit für sie habe, oder sie nimmt meine emotionale Unterstützung in Form von Worten an und macht sich allein auf den Weg zu ihrer Trinkflasche.
Lotta, ein Jahr und acht Monate alt, entscheidet sich für die Selbständigkeit. Sie nickt mir zu, dreht sich um, läuft den Flur entlang und biegt, sich noch einmal zu mir umdrehend, nach links ab. Ich schaue ihr nach und bin gespannt: Kommt sie zurück? Wann kommt sie zurück? Kommt sie mit ihrer Trinkflasche oder ohne?
Ein paar Minuten vergehen, da biegt Lotta um die Ecke, hält die Trinkflasche in der rechten Hand und ruft mir zu: » Gunga, schau mal!«
1 Siehe Lill, G.: Begriffe verschenken: Freudestaunen. Heft 12/06, S. 13
2 Erikson, E.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/08 lesen.