Über Bildung und Beteiligung im frühen Kindesalter
Der folgende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den Prof. Dr. Gerd E. Schäfer auf dem Bildungskongress »Können Steine schwimmen? Für eine neue Kultur des Lernens« hielt. Der Kongress fand am 27. und 28. Juni 2008 in Hamburg statt, veranstaltet vom Fortbildungsinstitut WeltWerkstatt e. V. und dem Alternativen Wohlfahrtsverband Sozial&Alternativ (SOAL).
Ich beginne mit einem Wort, das mir sehr gefällt: kindlicher Anfängergeist. Kleine Kinder sind Anfänger, und sie sind Anfänger in allen Bereichen. Das wird klar, wenn ein Kind geboren wird. Da weiß man, was Anfang ist. Da weiß man aber auch, dass das Kind nicht anfangen könnte, ohne schon etwas mitzubringen, eine Art Basisausstattung, mit der es etwas machen kann.
Die Basisausstattung
Zur Basisausstattung gehören:
• körperliche Bewegung und sinnliche Erfahrung. Kinder können sich, wenn sie geboren werden, in kleinem Maße bewegen, und sie machen von Anfang an sinnliche Erfahrungen. Sie differenzieren ihre körperlich-sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten entlang den Erfahrungen, die sie machen (können).
• emotionale Bedeutungen. Kinder können emotionale Bedeutungen entschlüsseln. Das heißt, sie wissen unmittelbar, ob eine Erfahrung ihnen gut tut oder nicht, ob sie ihnen gefällt oder nicht, ob sie sich davon distanzieren wollen oder nicht. Das ist wichtig, denn sie wüssten sonst nicht, was diese Welt bedeutet. Wenn sie keine Emotionen hätten, würden sie das nicht herausbekommen. Die Emotionen sind ein Grund dafür, dass wir Bedeutungen erkennen können.
• Kommunikationsfähigkeit. Kinder bringen eine anfängliche Kommunikationsfähigkeit mit. Sobald sie einigermaßen wach sind, fangen sie sofort an, den Erwachsenen ins Gesicht zu starren. Die Erwachsenen starren hoffentlich nicht, sondern lächeln freundlich zurück, geben also eine Antwort darauf.
• Mimik lesen und beantworten. Kinder können in unserer Mimik lesen und geben mimisch-gestische Antworten. Ihre Erfahrungen speichern sie im Gedächtnis, und zwar in Mustern. Ich sage deshalb Muster, weil sie zum Beispiel das mütterliche Gesicht ja nicht genau in allen Einzelheiten speichern, sondern zunächst so etwas wie ein Gesicht. Sie speichern das typische Muster eines Gesichts. Je öfter dieses Muster auftaucht, desto klarer und differenzierter wird es.
• Neugier. Kinder besitzen von Anfang an eine unbändige Neugier. Sie sind so neugierig, dass sie auf alles reagieren, was ihnen nicht schon bekannt ist. Das nutzt die Psychologie für Forschungen aus: In einer Forschungssituation nimmt man an, dass ein Kind genug von dieser Situation hat, wenn es sich abwendet. Man muss nur ein bisschen an der Situation verändern – und schon ist die Aufmerksamkeit des Kindes wieder da. Hat es sich an einen Reiz gewöhnt, wird die Welt für das Kind uninteressant. Fügt man einen neuen Reiz dazu, wird die Welt wieder interessanter.
Mit diesem Anfängergeist handeln Kinder in alltäglichen Situationen. Sie müssen zunächst einmal den Alltag bewältigen, nicht das, was wir für sie pädagogisch vorbereitet haben.
Forschendes Lernen
In einem Video ist zu sehen: Ein Kind spielt mit Stiften und steckt sie in einen Kloß Knete. Dabei passiert etwas sehr Merkwürdiges. Das Kind entdeckt nämlich, dass die Stifte, die schräg stecken, nicht einfach steckenbleiben, sondern sich unter ihrem eigenen Gewicht langsam zur Seite neigen und umfallen. Fasziniert schaut das Kind zu und versetzt sich mit seinem Körper so in dieses Fallen hinein, dass man seinen Händen die Bewegung der Stifte regelrecht ablesen kann. Es wiederholt diese Situation in vielen Variationen. Zum Beispiel versucht es, dem Fallen nachzuhelfen, indem es einen Stift herunterdrückt. Später spielt es mit den Stiften, macht Löcher in die Knete, bemalt sich die Wange.
Diese Szene des Experimentierens dauert ungefähr 25 Minuten. Dabei lässt sich das Kind kaum ablenken, kehrt immer wieder zum Experiment zurück.
Was sagt uns diese Szene über forschendes Lernen?
Das Kind nutzt seine Fähigkeiten, mit Stiften zu hantieren. Mit Knete hantieren, Stifte in Knete stecken – das kann es schon. Doch dann kommt etwas, das neu ist. Die Stifte bleiben unerwartet weder stecken noch fallen sie einfach um, sondern sie machen etwas Drittes: Sie senken sich langsam zur Seite. Das Kind entdeckt also etwas, das es noch nicht weiß, etwas völlig Neues, Faszinierendes. Und jetzt nutzt es alles, was es schon im Kopf hat, und probiert immer wieder aus: Was wäre, wenn ich den Stift nur ein Mal in die Knete steche? Was wäre, wenn ich ihn zwei Mal einsteche oder ihn heftig hineinstoße? Was wäre, wenn ich das Fallen mit der Hand beschleunige, wenn ich neue Löcher mache? Und, und, und… Das Kind testet also aus, was es schon kann, um herauszufinden, ob es noch mehr über das sonderbare Verhalten der Stifte herausbekommen kann. Es probiert all sein Vorwissen aus, und dieses Vorwissen kann variiert werden, in immer neuen Variationen. Das Variieren ist wichtig, sonst kann man nichts Neues finden.
Das Kind sucht Hilfsmittel. Das ließ sich in der beschriebenen Szene nicht erkennen, da es keine Hilfsmittel gab. In anderen Situationen kann man sehen, dass Kinder sich suchend umschauen: Wo ist noch etwas, das ich ausprobieren kann? Sie benutzen alles, was in ihrer Umgebung zu finden ist, als Werkzeug und probieren aus, was sie da-mit erreichen können. Das wiederholen sie meist mit großer Ausdauer und testen es aus.
Wir können das in anderen Zusammenhängen – ich beispielsweise in der Naturwerkstatt in Mülheim – immer wieder feststellen: Wenn Kinder mit Feuer und Flamme bei einer Sache sind und etwas entdeckt haben, das sie neugierig macht, dann muss es ausprobiert werden.
In der Naturwerkstatt beobachtete ich, dass Kinder immer wieder Dinge ins Wasser warfen, um auszuprobieren, ob sie schwimmen oder untergehen. Eine Erzieherin versuchte von Zeit zu Zeit, die Sache dadurch abzukürzen, dass sie das Ergebnis zusammenfasste: »Holz schwimmt, Steine sinken.« Die Kinder interessierte das aber überhaupt nicht; sie machten einfach weiter, zwei Tage lang. Danach sagten sie: »Na, ja, Hölzer sind Schiffe, und Steine sind U-Boote.« Da konnten sie selbst den Schluss ziehen. Aber vorher mussten sie es ausprobieren, an kleinen Hölzern, dickem und schwerem Holz, dünnem Holz, Rinde, Laub, Moos und allem, was sie auf dem Waldboden fanden.
Das ist auch richtig so, denn das Prinzip gibt ihnen nicht die Erkenntnis, sondern das Prinzip ergibt sich aus der Erfahrung. Erst wenn man alles einmal erfahren hat, dann weiß man. Wenn man Moos ins Wasser wirft, schwimmt es oder sinkt es? Das wissen Kinder nicht, wenn sie keine eigenen Erfahrungen gemacht haben.
Dieses Lernen im Geiste des Neulings braucht man ein Leben lang, auch als Erwachsener. Selbst wenn man in den Urlaub fährt, lernt man etwas Neues, und dann muss man im Geiste des Neulings neue Erfahrungen machen. Egal, wo – man kann nicht anders, man probiert es einfach aus.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/08 lesen.