Genderarbeit in einem
schwedischen Kindergarten
Fast verloren wirken die zweijährigen Mädchen in dem etwa 30 Quadratmeter großen Bewegungsraum der Mjölnarans Förskola in Stockholm. »Mädchen beanspruchen nicht so viel Platz für sich und sind vorsichtig mit grobmotorischen Herausforderungen.« Das ist ein Rollenstereotyp, dass die Vorschullehrerinnen bewusst durchbrechen wollen.
Zwar verschwindet eins der drei Mädchen wie es das Klischee beschreibt in einem bunten Plastikspielhaus und spielt Versteck mit der Pädagogin. Doch die anderen beiden stolpern zwei, drei Meter über die Turnmatte und wagen sich – immer im stillen Dialog mit der ermunternd schauenden Vorschullehrerin – auch die Stufen zur Rutsche hinauf. In einer gemischten Gruppe hätten das nur die Jungen getan, vermutet Ingrid Stenman.
Das Thema »Gender«
Seit 2002 ist »Gender« ein Thema in ihrer Einrichtung, in der 124 Kinder zwischen zwei und sechs Jahren betreut werden. Zuvor beschloss die Regierung ein Programm, das Teams von Vorschulen für Fragen der Gleichstellung sensibilisieren und sie für diese Arbeit qualifizieren soll. Dafür wurden einige Millionen Kronen investiert. Bereits im schwedischen Bildungsplan von 1998 stand, Mädchen und Jungen sollten die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln und zu erproben, ohne von Rollenstereotypen begrenzt zu werden.
»Dafür mussten zunächst wir Erwachsenen uns mit dem Thema auseinander setzen«, erklärt Ingrid Stenman. Seit 25 Jahren arbeit sie als Vorschullehrerin. Ihr Auftreten als Frau und Erzieherin war dabei kaum ein Thema. Erst als sie in Büchern ihrer Tochter las, womit diese sich in ihrem Studium der Erziehungswissenschaften beschäftigte, schreckte sie auf: »Wie sehr wir uns in unserem Verhalten von Geschlechterbildern beeinflussen lassen?«
Diese Frage lässt die blonde, jugendlich wirkende Frau seitdem nicht mehr los. Sie absolvierte ein Genderstudium an der Universität. Heute ist sie nur noch die Hälfte ihrer Arbeitszeit in der Vorschule tätig. In den verbleibenden Stunden koordiniert sie die Genderarbeit in Stockholm und gibt anderen Vorschul-Teams Impulse für ihre Entwicklung in Sachen Geschlechtergerechtigkeit. »Auch wir brauchten jemand von außen, um unser Rollenverhalten zu erkennen«, erinnert sie sich an den Start ihrer Genderarbeit vor sechs Jahren.
Die eigenen Rollenklischees
Bereits beim ersten kritischen Blick durch die Geschlechterbrille fiel den Pädagoginnen auf, dass sie den Jungen in ihrer Einrichtung mehr Platz als den Mädchen zugestanden. Die Jungen sahen sie als Handelnde, spornten sie zum Wetteifern an – wenn auch oft genug mit dem Ergebnis, dass ihr Verhalten negativ auffiel. Mädchen sollten auch in den Augen der Vorschullehrerinnen vor allem süß, tüchtig und hilfsbereit sein. »Von ihnen erwarten wir, dass sie die Regeln einhalten, Verantwortung übernehmen, vorsichtig sind und sich zurücknehmen. Trotzdem benutzen wir sie oft als Helfer oder Stoßdämpfer in schwierigen Situationen«, beschreibt Ingrid Stenman die Entdeckung ihres Teams. Auch wenn sie sachlich darüber spricht, ist der Zorn über eine Einschränkung zu spüren, die schon ihre eigene Sozialisation wie die ihrer Kolleginnen begleitete – und die sie nicht länger akzeptieren wollte. Dem Team wurde bewusst, dass es Mädchen und Jungen auf verschiedene Weise dabei begleiten muss, sich gemäß ihrer eigenen Potenziale zu entwickeln, wenn der in der schwedischen Verfassung festgeschriebene Grundsatz der Gleichberechtigung Praxis werden soll.
Mädchen brauchen Unterstützung, um ihr Selbstvertrauen aufzubauen. Jungen brauchen Hilfe, um Nähe zuzulassen und zu kooperieren. Und um gleichzeitig in beide Richtungen zu gehen, braucht es eine moderne Pädagogik. Auf ihre Fragen gab es jedoch bisher zu wenig Antworten aus der Wissenschaft, fanden die Vorschullehrerinnen. Deshalb begannen sie, ihre Praxis forschend anzuschauen und Methoden auszuprobieren.
Veraltete Stereotype
Eine der ersten Fragen war, unter welchen Voraussetzungen Mädchen und Jungen bereit und in der Lage sind, über traditionelle Geschlechterrollengrenzen hinweg zu handeln. Eine dieser Voraussetzungen schuf das Team, indem es die Gruppen trennte. Sowohl Mädchen als auch Jungen sollte ermöglicht werden, Fähigkeiten und Fertigkeiten auszuprobieren, zu denen sie normalerweise nicht leicht Zugang finden. Mädchen – so beobachteten die Vorschullehrerinnen in ihrer Einrichtung – übernehmen keine Führungsaufgaben, wenn Jungen dabei sind. Im Bewegungsraum überlassen sie es den Jungen, laut und schnell auf den Autos über das Parkett zu rollen. Die Jungen wiederum sprechen selten über sich und ihre Gefühle, arbeiten selten zusammen. Um zu sehen, ob dieses Verhalten beeinflussbar ist, werden die Gruppen in der Mjölnarans Förskola heute öfter geteilt.
Unter den 24 Erwachsenen in der Einrichtung gibt es nur einen Mann. Selbst wenn mehr Männer zum Team gehörten, wäre das noch lange kein Garant für eine erfolgreiche Gendererziehung, meint Ingrid Stenman. »Nicht jeder Mann ist ein gutes Rollenvorbild. Auch nicht jede Frau«, stellt sie sachlich fest. »Unser wichtigstes Werkzeug ist unser eigenes Verhalten. Was sage ich, und wie sage ich es? Was erlaube und was verhindere ich?«
Um sich selbst dabei auf die Schliche zu kommen, nutzte das Stockholmer Team eine Reihe von Übungen. Ingrid Stenman präsentiert eine Fotogalerie in einem Flur der Mjölnarans Förskola. Ein tätowierter, dunkelhäutiger junger Mann ist zu sehen, eine coole, burschikose junge Frau in Jeans, eine Muslima mit Kopftuch und eine Frau mit Brille vor dem Laptop. Ein Mann vor dem Hochofen und einer mit Anzug, eine geschminkte Frau und ein transsexueller Mann. »Wie begegnen wir jedem dieser Menschen, wenn sie als Eltern oder Großeltern in unsere Einrichtung kommen? Wen heißen wir willkommen? Wer macht uns Angst?«, fragten sich die Kolleginnen. »Und was lernen die Kinder, wenn sie uns dabei beobachten?«
Die Lebensweisen in einer Großstadt wie Stockholm differenzieren sich weiter aus. Vieles ist möglich, wird toleriert. Doch wird es im Kontakt auch angenommen und akzeptiert? »Wir ahnen, dass unsere uniformen Haltungen, Forderungen und Erwartungen die Entwicklung der Kinder prägen«, notierten die Pädagoginnen in einem Papier über die geschlechtergerechte Erziehung. »Wir ziehen sie noch immer mit veralteten Stereotypen auf.«
www.neue-wege-fuer-jungs.de
»Neue Wege für Jungs« ist ein bundesweites Vernetzungsprojekt und Service-Büro. Seit 2005 unterstützt es Initiativen und Projekte, die schulische und außerschulische Angebote für Jungen zur Erweiterung der Berufs- und Studienfachwahl, der Flexibilisierung männlicher Rollenbilder und zum Ausbau sozialer Kompetenzen organisieren.
www.genderorientierung.de
Besonders die offene Kinder- und Jugendarbeit blickt – gestützt auf vielfältige emanzipatorische Ansätze – auf jahrelange Erfahrungen in geschlechtsbewusster Mädchenarbeit zurück. Mit dem Programm »Genderorientierung in der Jugendhilfeplanung und Jugendpflege« soll geschlechterdemokratisches Handeln landesweit nachhaltig entwickelt und durch innovative Modelle ergänzt werden.
www.gender-mainstreaming.net
Umfangreiche Website des BMFSFJ mit Hintergrundinformationen, Ansprechpartnerinnen und -partnern sowie Kontaktstellen in den verschiedenen Ländern, mit Arbeitshilfen und einem Wissensnetz zum Thema.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/09 lesen.