Ästhetische Erfahrungs- und Ausdrucksweisen sind grundlegend für die Entwicklung von Kindern. Die Kreativität und das Spiel, die Bewegung, das Zeichnen, Malen, Sammeln, Bauen und Konstruieren sind bedeutsame Erfahrungs- und Bildungsformen für Kinder. In diesem Zusammenhang wird immer wieder über die Ähnlichkeit von Kunstwerken und kindlichen Ausdrucksweisen diskutiert, Kinder werden von stolzen Eltern als Künstler bezeichnet. Und Maler wie Klee, Picasso oder Miro wurden in ihrer künstlerischen Entwicklung durch Kinderzeichnungen inspiriert.
Was könnte sie inspiriert haben? Und was für einen Nutzen könnten wir heute noch daraus ziehen? Prof. Dr. Stefan Brée beantwortet diese Fragen.
Zunächst machen wir einen Ausflug in das Konzept der Montage und Kreativität als grundlegendes Verfahren in der Kunst und im Design. Ich werde zeigen, dass künstlerische Verfahren ebenso wie das Basteln, Sammeln und Ordnen auf allgemeine Strukturmerkmale ästhetischer Erfahrungen von Kindern verweisen. Anschließend werfe ich einen Blick auf zentrale Begriffe des aktuellen Bildungsdiskurses und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Elementardidaktik. Am Beispiel eines Projekts aus der Reggio-Pädagogik soll es um eine ästhetische Praxis mit Kindern gehen, die bewirkt, dass die Akteure durch kunstnahe und kreative Verfahren zu einer besonderen Lern- und Forschungsgemeinschaft werden können, in der Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn eine Synthese bilden.
Ich beginne mit einem Zitat: »Was, hast du gesagt, bist du?« »Ein Sachensucher.« »Was ist das?« »Jemand, der Sachen findet. Das tun eben die Sachensucher.« »Was sind denn das für Sachen?« »Ach, wisst ihr, alles Mögliche. Goldklumpen und Federn und tote Mäuse und Schrauben und all so was. Etwas findet man immer. Am besten, wir fangen auf der Straße an zu suchen, wo Menschen sind, da findet man immer die besten Sachen.«
Mit den seltsam anmutenden Vorlieben ihrer Hauptfigur Pippi Langstrumpf provoziert Astrid Lindgren Vorbehalte gegenüber der ungebrochenen Neugier- und Fantasiefähigkeit von Kindern. Denn viele Erwachsene finden es nicht sinnvoll, wenn Kinder sich mit schmutzigen Schrauben und toten Mäusen beschäftigen. Weshalb tun Kinder das? Und warum ist das so?
Bedeutung erzeugen, verstehen und teilen
Bedeutung entsteht in der Interaktion von Individuen mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt. Um Bedeutung zu teilen und sich mit anderen Menschen zu verständigen, nutzt der Mensch symbolische Systeme wie Gesten, Zeichen, Bilder und vor allem die Sprache.
Unsere Kultur beruht auf menschlichen Akten der Kommunikation und Interaktion. Aufmerksamkeit und Verstehen sind im gemeinsamen Verständnis der gegenwärtigen Situation verankert.1 Wir bewegen uns in einem anhaltenden Prozess des Erzeugens, Verstehens und Teilens von Bedeutung, und zwar von Anfang an. Was bedeutsam ist, wird ausgehandelt: zwischen uns, den Dingen und anderen Menschen.
Bedeutung erzeugen, verstehen und teilen – auf diese Weise beschäftigen sich schon Säuglinge tagtäglich mit ihrer Umwelt. Neugierig lernen Kinder, mit sich und Phänomenen ihrer Umgebung umzugehen und dabei die unterschiedlichsten Probleme zu lösen. Sie sind Experten für ein Wissen aus erster Hand, wie Gerd Schäfer treffend bemerkt.2 Kinder haben das natürliche Bedürfnis, durch das neugierige Sammeln von Goldklumpen, toten Mäusen, Schrauben und Federn Sinn zu erschaffen und ihren Horizont dadurch zu erweitern. Zufällig Gefundenes verdichtet sich für sie zu geheimnisvollen Artefakten und ihren Geschichten.
Zunächst konstruieren Kinder ihr Wissen aus eigener Erfahrung. Spielerisch und schrittweise verknüpfen sie es mit Wissen aus ihrem kulturellen Umfeld. Auf diese Weise werden kognitive Strukturen gebildet, auf die wir unser ganzes Leben lang zurückgreifen. Dieses Spiel mit Bedeutung im Zwischenraum von Fantasie und Wirklichkeit ist nicht nur eine wichtige Voraussetzung des abstrakten Denkens, sondern wird auch als Ursprung unserer Kultur gesehen.3
Angesichts zunehmend reduzierten Erfahrungswissens aus erster Hand müssen wir allerdings fragen, welche materiellen und sozialen Bedingungen Kinder vorfinden sollen, da-mit sie das Spielen und Fantasieren als Voraussetzung des Denkens nicht verlernen. Eine Antwort auf diese Frage finden wir da, wo das professionelle Spiel mit Bedeutung und Sinn zu Hause ist. Die kreativen Verfahren der Kunst und des Designs trainieren den Möglichkeitssinn, wie Musil sagen würde. Wer so denkt, hat keine festgelegte Erwartungshaltung, sondern träumt gern und denkt: Es könnte so, aber auch anders sein.4
Um herauszufinden, was den ästhetischen Konjunktiv der Kunst und des Designs für die Bildungsarbeit mit Kindern so attraktiv macht, lohnt es sich, zunächst danach zu fragen, wie Künstler und Designer arbeiten und wie wir ihre Produkte wahrnehmen.
1 Vgl. Tomasello 2009
2 Schäfer 2008
3 Huizinga 1995
4 Musil 2010