Anna Simone Wallinger fotografierte die Bilder für den School for Life-Kalender 2012. Ein Bericht.
Als ich das Gelände der School for Life im Norden Thailands (Chiang Mai) betrat, hatte ich sofort das Gefühl, an einem sehr besonderen Ort zu sein: rote Erde, sattes Grün und freundliche Kinderstimmen aus allen Richtungen.
Man hatte mich eingeladen, als Fotografin den alljährlich erscheinenden Kalender vor Ort zu fotografieren. Ich wollte ein Projekt machen, das die Kinder und Jugendlichen zu Akteuren werden lässt: Sie sollten den Inhalt des Kalenders selbst bestimmen. Nur: Welches Thema könnte interessieren?
Während meiner Recherchen wurde mir schnell klar, dass sich mir eine spannende Herausforderung stellte: Es galt nicht nur eine Gruppe Teenager kurz vor den großen Ferien zu motivieren, sondern sich in die Mentalität des Kulturkreises einzufühlen, Sprachbarrieren zu akzeptieren und zu überwinden. Glücklicherweise fanden sich sehr hilfsbereite und geduldige Übersetzer.
So fand ich heraus, dass ein Großteil der Kinder und Jugendlichen aus Bergdörfern in den Wäldern Nordthailands stammt. Sie sind Angehörige ethnischer Minderheiten, der Akha, Lisu, Lahu, Hmong, Shan und Karen. Was macht das Leben dieser Bergvölker aus? Wie sind die Jugendlichen sozialisiert worden, fragte ich mich und recherchierte weiter. Ursprünglich lebten diese Kinder in Bergdörfern, die eine gesunde soziale Struktur hatten. Die Minderheiten Thailands sind dem Druck der kulturellen und sozialen Assimilierung ausgesetzt. Der Kontakt mit der thailändischen Mehrheitsgesellschaft, die buddhistischen und christlichen Missionierungsversuche und die ökonomischen Entwicklungen haben Veränderungen mit sich gebracht.
Der Wald ist nicht länger Siedlungs- und Lebensraum dieser Menschen. Der Animismus, der die Dorfgemeinschaft im Alltäglichen wie in besonderen Ritualen über das Jahr zusammengehalten hat, verliert an Bedeutung – und Traditionen, welche die Dorfgemeinschaft gestärkt haben, bröckeln. So leben heute viele Kinder und Jugendliche der Bergstämme Nordthailands ein Leben auf der Straße. Manche haben ihre Familie verloren, andere sind vor dieser geflohen oder von ihr verstoßen worden. Sie lernen sich zu organisieren, um von Drogenkriminalität und Drogenkonsum, HIV und anderen Krankheiten und der Armut, die in den Grenzgebieten des Nordens vorherrscht, nicht kaputt gemacht zu werden.
Manche haben großes Glück und finden in einem Projekt wie der School for Life ein neues Zuhause. Es geht darum, wie man kulturelle Widerstandskraft entwickeln und dem Sog von »uniformity« durch »diversity« Paroli bieten kann.
An diese Überlegungen knüpft mein Kalender-Thema an: Wie kann man die Traditionen und Rituale, mit denen die Jugendlichen aufwuchsen, bewahren? Was wissen sie noch davon?
Ich begann sie danach zu fragen, und schnell waren Geistergeschichten und Rituale zusammengetragen. Die Idee war nun, diese in Inszenierungen wieder aufleben zu lassen. Hierfür zeichneten die Jugendlichen die Geschichten. Die entstandenen »storyboards« sollten als Vorlage für die Inszenierungen dienen. Da waren großartige Zeichnungen dabei, aus denen ich am liebsten gleich einen Kalender gemacht hätte, so begeistert war ich. Aber die Inszenierungen hatten auch ihren Reiz. Es mussten spannende Orte auf dem Schulgelände und in der Umgebung gefunden werden, atmosphärische Lichtsituationen aufgespürt, es musste improvisiert werden; und mit einfachen Mitteln mussten Kostüme und Requisiten gebastelt werden.
Für ein Flirt-Ritual aus alter Zeit beispielsweise gingen wir auf ein weites Feld, was an das Schulgelände grenzt. Als die Sonne schon sehr tief stand und das hohe Gras richtig leuchten ließ, standen sich Jungen und Mädchen in einer Reihe in ihren traditionellen Kostümen gegenüber: sie warfen sich Bälle zu und kicherten bei dem Gedanken, dass man sich bei einem Ritual wie diesem früher näher kommen sollte. So flogen die Bälle unermüdlich durch die Luft, bis ich mit meiner analogen Fotokamera endlich die richtigen Einstellungen auf dem Film hatte.
Eine weitere Szene war animistisch geprägt und sollte in einer Hütte bei gedämpftem Licht stattfinden. Die Geschichte erzählt von einem Mädchen, das von einem Geist besessen ist und von einem Schamanen geheilt werden soll. Eine Arbeiterin der »School for Life« stellte uns ihr Schlafgemach zur Verfügung. Kerzen wurden besorgt so-wie ein Gewand und ein Hut für den Schamanen. Obwohl ein exorzistisches Ritual wie dieses eigentlich eine Gänsehaut verursachen könnte, wurde viel gelacht. »Wir sind damit aufgewachsen«, meinte eine Protagonistin und fächelte sich Luft zu. Warm war es in der Hütte gewesen.
Ernst wurde es allerdings, als wir uns auf einen kleinen Ausflug begaben, um zwei weitere Kalenderszenen zu inszenieren. Bevor im Norden Thailands neuer Reis gepflanzt wird, bringt man den Schutzgeistern ein Opfer dar: Ein Huhn wird auf bestimmte Art und Weise geschlachtet. Ein Junge nahm hierfür sein Lieblingshuhn mit – natürlich sollte das Schlachten nur gestellt werden. Als die Szene im Kasten war, fuhren wir zu einem buddhistischen Tempel, um dort ein weiteres Ritual zu zelebrieren. Da wurde geschminkt und geschmückt, und auf einmal war das Huhn weg! Wir suchten, aber es war nicht zu finden. Mit gedämpfter Stimmung ging es zurück zur Schule. Aber welch Glück: Am nächsten Tag kam mir der junge Huhnbesitzer strahlend entgegen – er hatte sich nochmal auf den Weg zum Tempel gemacht und es wiedergefunden.
In dieser einen Woche intensiven Arbeitens konnte ich Einiges lernen. Letztlich vor allem, wie die kulturellen Hintergründe dieser Jugendlichen unser westliches Bild von behüteter Kindheit ordentlich auf den Kopf stellen. So ist ein Kalender entstanden, der einen Einblick in die rituelle und animistische Erinnerung der Jugendlichen gibt: manchmal klar, manchmal surreal, aber immer etwas geisterhaft.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/11 lesen.