Erwachsene gestalten Räume für Kinder – in der besten Absicht, dass die Kinder sich darin wohl fühlen und altersgerechte Anregungen finden. Doch wie erleben Kinder den Raum? Und was ist das überhaupt: Raum?
Kornelia Schneider und Norbert Huhn denken laut nach. Erika Berthold zeichnete das Gespräch auf.
Kornelia Schneider: Über Raumgestaltung kann man viele Bücher lesen. Aber es gibt keine Fachliteratur darüber, wie wichtig es für Kinder ist, Raum zu erleben, und was sie daraus für ihre Entwicklung ziehen. Leider wird häufig auch vergessen, dass Kinder selbst etwas aus den Räumen machen, die man ihnen zur Verfügung stellt, sie mit Leben füllen.
Genau genommen ist der Mutterleib der erste Raum, der Kindern zur Verfügung steht und den sie kennen.
Norbert Huhn: Sie erkunden ihn über Bewegung…
Kornelia Schneider: … und lernen sich durch die Begrenzung kennen, die sie in diesem Raum haben.
Norbert Huhn: Im Mutterleib haben sie irgendwann nicht mehr genug Raum zum Strampeln. Dann wollen sie raus, weil sie größeren Strampelraum brauchen.
Kornelia Schneider: Emmi Pikler hat gesagt: Kinder brauchen immer etwas mehr Raum, als sie gerade in ihrer Entwicklungsphase ausfüllen, damit sie den nächsten Schritt angehen können. Das fängt im Mutterleib schon an.
Kommen sie raus, muss das ein Riesen-Schock sein: grelles Licht, klirrende Geräusche. Dann werden sie behütet, in Körbchen und Kissen gebettet, so dass ihnen nichts geschieht.
Kornelia Schneider: Diese Begrenzung scheint wichtig zu sein. Babys streben, wenn sie im Bettchen liegen, oft zur Wand, weil sie Grenzen suchen. Die Psychologin Félicie Affolter hat sich damit befasst, wie ein Kind Informationen dadurch gewinnt, dass es seine Umgebung spürt. Dabei spielt Widerstand eine große Rolle. Und das fängt im Mutterleib an. Ein Kind muss ganz schön arbeiten, um rauszukommen. Es gibt übrigens Therapeuten, die lassen Kinder, die durch Kaiserschnitt auf die Welt kamen, diese Arbeit nachholen, weil ihnen sonst die Erfahrung damit fehlt.
Norbert Huhn: Dieses Auf-die-Welt-Kommen könnte man als Befreiung sehen. Wenn ein Kind so groß ist, dass es sich nicht mehr bewegen kann, will es mehr Raum haben. Das geht nur, indem es rauskommt.
Die Mutter hilft ihm durch die Wehen, die das Kind austreiben. Dann ist es da.
Kornelia Schneider: Am Anfang kann es nicht viel machen, kann sich nicht von der Stelle bewegen. Obwohl – es gibt inzwischen Untersuchungen, dass Kinder es irgendwie schaffen, zur Brust zu kommen. Sie können sich schon bewegen, um das Notwendigste zu erreichen. Aber sie können ihren Raum nicht gestalten.
Norbert Huhn: Doch. Zur Brust kriechen heißt, den Raum gestalten. Wenn ich das Kind als Subjekt betrachte, das seine Welt für sich erst konstruiert, dann gibt es nichts Fertiges.
Kornelia Schneider: Stimmt. Daran sieht man wieder mal, wie schwer es ist, auf jede Situation zu übertragen, was es heißt: Der Mensch baut sich sein eigenes Weltbild durch Erfahrung, durch Interesse...
Norbert Huhn: … und durch Auseinandersetzung. Klappt es, zur Brust zu kommen, oder nicht? Wird ein Kind an die Brust gelegt, gewöhnt es sich schnell daran: Zu meiner Welt gehört, dass ich an die Brust gelegt werde.
Bewegt sich das Kind zur Brust, riecht es wahrscheinlich schon: In diese Richtung geht der Weg. Und die Geräusche der Mutter sind dem Kind auch vertraut.
Kornelia Schneider: Ja, im Säuglingsalter läuft viel über Geruch und Geschmack, aufgenommen im Mund-, Rachen- und Nasenraum. Im Mund sind übrigens die Sensorien so ausgebildet, dass die Kinder auch Formen ertasten können. Diese Tastsensorien sind anfangs viel sensibler als die in den Fingerspitzen. Kinder erleben sich von Anfang an in einem akustischen Raum. Sie erkennen zum Beispiel, ob Schritte weit weg oder in der Nähe sind. Daraus ziehen sie Schlüsse. Wie groß so ein Raum ist, ob es hallt oder nicht, wo Begrenzungen sind – das läuft übers Gehirn. Wir sind all das gewohnt. Deswegen denken wir bei Kindern nicht daran. Weil wir nicht mehr viel über die Ohren machen, vernachlässigen wir das Akustische.
Norbert Huhn: Ich weiß nicht, in welchem Umfang das Hören schon entwickelt ist, wenn die Kinder auf die Welt kommen. In Bezug auf das Sehen hat man inzwischen klare Belege, dass Neugeborene visuell sofort Gesichter von Nicht-Gesichtern unterscheiden können.
Kornelia Schneider: Selbst wenn alles da ist, kann es sein, dass sich nicht alles entfalten kann, weil die Kinder keinen Raum dafür bekommen. Inzwischen ist anerkannt, dass Sinneserfahrungen enorm wichtig sind. Wichtiger als alles, was wir den Kindern beibringen könnten. Sie bringen es sich selbst bei, mit Hilfe ihrer Sinne. Das fehlt in der Raumgestaltungsliteratur. Da kommen zwar Licht, Farbe und Angebote für unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten vor, damit Kinder sich andere Perspektiven erschließen: oben, unten, neben und all das. Aber zu der Frage, wie Kinder Raum eigentlich wahrnehmen, habe ich nur bei Daniel Stern etwas gefunden, der das »Tagebuch eines Babys« geschrieben und versucht hat, sein Wissen so umzusetzen, als würde ein Kind seine Erlebnisse beschreiben. Wie könnte man das tatsächlich untersuchen? Mittels ausgeklügelter Untersuchungsanordnungen, die man in der Säuglingsforschung nutzt, um herauszufinden, was Kinder schon wissen, klappt das wahrscheinlich nicht. Ein paar Anhaltspunkte gibt es aber: Säuglinge haben schon Tiefenwahrnehmung. Lässt man sie über eine Glasscheibe kriechen, durch die sie den Boden sehen können, zögern sie. Kommt ein Ball auf sie zu, reagieren sie. Ist der Ball groß, machen sie Abwehrbewegungen. Sie wissen, dass sie getroffen werden können.
Was heißt es, wahrzunehmen, dass da ein Lufthauch ist? Wärme und Kälte – daran denken wir. Aber einen Lufthauch zu spüren? Was passiert eigentlich in Kitas, in denen ständig alles in Bewegung ist und kleine Kinder mit zahllosen Eindrücken bombardiert werden? Keine Ahnung…
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/13 lesen.