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Kinder aus 17 Nationen unter einem Dach
In der Magdeburger Kita »Weltkinderhaus« ist der Name Programm: Kinder aus 17 Nationen tollen, toben, spielen, lachen und lernen hier zusammen. Karsten Herrmann, Kommunikationsleiter des niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe), stellt uns eine Einrichtung vor, in der kultursensible Pädagogik ernst genommen wird.
Die bewusste Förderung der Vielfalt springt den BesucherInnen beim Betreten der alten Villa in der Magdeburger Neustadt sofort ins Auge. Schon im Treppenhaus sind mehrsprachige Begrüßungen und Hinweisschilder angebracht, die Räume auf den zwei Kita-Etagen des Weltkinderhauses sind in mehreren Sprachen beschriftet und bunte, von den Eltern gestaltete Fahnen schmücken die Wände. Puppen und Spielfiguren mit verschiedenen Hautfarben sowie mehrsprachige Bilderbücher sind in den Räumen zu sehen. Ein Fotospeiseplan mit Piktogrammen zeigt Kindern und Eltern, was es in der Woche zu essen gibt und in welchen Gerichten z.B. kein Schweinefleisch enthalten ist.
»Für viele Kinder hier ist ihre Sprache das Einzige, was sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben und so möchten wir ihnen auch in der Kita ein Stück Heimat und das Gefühl von Sicherheit bieten«, erklärt die Leiterin der Magdeburger Kita Weltkinderhaus Silke Bauer. »Wir versuchen daher auch, alle Eltern mit Nachnamen anzusprechen, selbst wenn die Aussprache manchmal nicht ganz so einfach ist. Dann fragen wir bei den Eltern lieber zwei- oder dreimal nach. Sie freuen sich, dass wir es mit der richtigen Aussprache wirklich ernst meinen und fühlen sich von uns wertgeschätzt«, erzählt sie weiter. Zum stetigen Üben haben die MitarbeiterInnen die Nachnamen der Familien an der Garderobe der Kinder angebracht.
Die Zusammenarbeit mit Eltern nimmt im Weltkinderhaus eine zentrale Stellung ein und, so Silke Bauer, »eine offene und positive Grundhaltung ist die Basis unserer Erziehungspartnerschaft«. Auf jeder Etage gibt es eine gemütliche Elternsitzgruppe mit einer Fotowand, einem Monitor mit bewegten und bewegenden Bildern aus dem Kitaalltag sowie den Portfolios der Kinder. Hier können sich die Eltern jederzeit über die aktuelle Entwicklung sowie die Interessen und Erlebnisse ihrer Kinder informieren. Regelmäßig werden mit den Eltern auf dieser Grundlage auch Entwicklungsgespräche durchgeführt. Schon die Eingewöhnungsphase, die auf der Grundlage des Berliner Modells in jeweils individueller Gestaltung stattfindet, sieht Silke Bauer als Chance, nicht nur zwischen Erzieherin und Kind, sondern auch zwischen Erzieherin und Eltern eine vertrauensvolle Bindung und Beziehung aufzubauen.
»Die große kulturelle und soziale Vielfalt sehen wir als Chance und Gewinn«, sagt Silke Bauer. »Von Anfang an erfahren unsere Kinder, dass es verschiedene Familienformen, Sprachen, Hautfarben und Religionen gibt und setzen sich damit auseinander.« Gelebt wird mit den 102 Kindern zwischen anderthalb und sechs Jahren nach dem offenen Konzept. Im Fokus steht die Partizipation aller Kinder.
Ohne zusätzliche Förderung hat sich das Weltkinderhaus auch auf den Weg zu einem Familienzentrum gemacht. So werden nicht nur einmal in der Woche ein Elterncafé und ein Babytreff angeboten, sondern es gibt in der Kita auch Angebote des Jobcenters oder eine Erziehungsberatung. Über die Gestaltung einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern hinaus legt Silke Bauer großen Wert auf die sozialräumliche Vernetzung und so arbeitet das Weltkinderhaus mit vielen externen Kooperationspartnern, wie dem Netzwerk Frühe Hilfen, dem Gesundheitsamt, der Stadtbibliothek oder auch der Hochschule Magdeburg-Stendal zusammen.
Vor fünf Jahren hat die Kitaleiterin, die berufsbegleitend an der Hochschule Magdeburg-Stendal ihren Bachelor in Kindheitspädagogik absolviert hat, das Konzept der Kita auf die offene Arbeit umgestellt. »Das war für das Team, die Eltern und insbesondere auch für die Kinder, die schon länger in der Kita waren, eine große Herausforderung«, räumt sie ein. Heute sind aber alle überzeugt von dem Konzept, das durch die Partizipation von Kindern und Eltern, eine vorurteilsbewusste Bildung und kultursensitive Pädagogik bestimmt ist. Gut 50 Kinder haben auf jeder Etage eine Auswahl an verschiedenen Angeboten, wie dem Atelier, dem Bau- oder Experimentierraum, einem Theater, der Kinderküche oder einer Hörstation. Natürlich können sie aber auch drinnen oder im Außenbereich frei spielen oder es sich mit einem Bilderbuch auf der Couch gemütlich machen.
Ein »Muggelstein«-System wird für vielfältige Entscheidungen im Kitaleben genutzt. So wählen Kinder mit aus, welche Bücher oder Spiele im Regal zur Verfügung gestellt werden sollen oder auch mal aussortiert werden. Mit den Muggelsteinen signalisieren die Kleinen, ob und wo sie mittags schlafen möchten. Einige der Kleinsten entscheiden auch, von wem sie gewindelt werden möchten und unterstützen dies durch selbstständiges Holen der neuen oder Öffnen der benutzen Windeln. Nicht zuletzt können die Kleinen auch ihre Bezugserzieherin selber bestimmen.
»Kinder, die Möglichkeiten haben auszuwählen, haben es einfacher«, berichtet Silke Bauer auch im Hinblick auf Kinder mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung. Das offene Konzept ermögliche es allen Kindern in hohem Maße, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und auszuleben. So könne man besser an den Stärken und aktuellen Bedarfen der Kinder ansetzen. Die Fähigkeit zu entschieden und das demokratische Aushandeln haben dabei nach ihren Erfahrungen auch nichts mit dem kulturellen Hintergrund der Kinder, sondern eher etwas mit dem Bildungsstand in der Familie zu tun. Bei Familien mit Fluchthintergrund stellt Silke Bauer oft einen hohen Bildungsanspruch fest: »Die Eltern tun alles, um ihre Kinder entsprechend zu unterstützen.«
Jedes Jahr im Juni oder Juli wird im Weltkinderhaus auf beiden Etagen ein Kinderrat gewählt, der regelmäßig tagt und mitentscheidet. Hierbei geht es nicht nur um die Planung von Festen und Feiern – d.h. welche Spiele vorbereitet werden oder wie das Frühstücksbüfett gestaltet werden soll –, sondern auch um die Auswahl von neuen Kinderfahrzeugen. Der Kinderrat wird außerdem bei der Festlegung von Regeln mit einbezogen. So entstand eine Parkstation auf der Freifläche, damit keine Fahrzeuge mehr einfach irgendwo abgestellt werden. Auch die Anbringung eines Basketballkorbs auf dem Freigelände ist durch einen Vorschlag des Kinderrats entstanden. Dieser hat dann mitentschieden, an welcher Stelle der Korb angebracht wird.
Wöchentlich tagt darüber hinaus eine Kinderversammlung, in der alle Angelegenheiten des Kitaalltags, wie zum Beispiel Regeln oder Absprachen, Projektideen oder Konflikte, gemeinsam besprochen werden. Nicht zuletzt gibt es im Weltkinderhaus auch eine Beschwerdestelle für Kinder, die von der Kinderschutzfachkraft der Kita besetzt ist. »Hin und wieder versuche ich den Kindern gezielt Anlass zu geben, sich zu beschweren und dieses Instrument zu nutzen«, erzählt Silke Bauer schmunzelnd.
Dr. Karsten Herrmann leitet seit 2007 die Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftskommunikation des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Davor war er als freier Journalist und Projektmanager tätig.
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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/17 lesen.