Die Lust am Dialog und die pädagogische Kränkung
Die Aufgaben und Pflichten der Erzieherinnen und Erzieher werden immer komplexer. Im täglichen Handeln die Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu finden, ist für sie eine Herausforderung. Das ist eine pädagogische Kränkung. Im Eingang von vielen Krippen und Kitas hängen Plakate, auf denen die Menschenrechte des Kindes in einfacher Sprache geschrieben stehen. Doch können die Rechte der Kinder wirklich lebendig werden? Haben ErzieherInnen ausreichend Zeit und den Raum, um mit den Kindern zu erfahren, wie deren Rechte ihre alten und neuen Aufgaben bzw. ihre Pflichten verändern? Die Bewegungspädagogin und Kinderrechtsaktivistin Gerburg Fuchs ist der Meinung, dass es dafür im Wesentlichen um die Anerkennung und Neugestaltung der Beziehung zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen geht.
»1, 2, 3, 4... wo ist die Mama?«, lautet das geliebte Spiel der Kinder. Ein kleines Mädchen im Alter von zwei Jahren versteckt sich schnell hinter dem Stein am Brunnen und wartet. Die Mutter schleicht sich an und sagt, in dem Moment, als die Tochter hinter dem Stein hervorschaut: »Da ist die Mama«. Die Freude und das herzzerreißende Lachen des Kindes sind ansteckend. Warum bilden wir Erwachsene uns ein, dass ein Kleinkind nicht versteht? Das Bedürfnis, den anderen verstehen zu wollen, ist dem Mensch von Geburt an biologisch gegeben. Jede Mutter, jeder Vater, jede pädagogische Fachkraft hat eine Schlüsselrolle, weil das Handlungsvermögen des einzelnen Kindes untrennbar mit ihrer Entscheidungsmacht verbunden und davon abhängig ist.
Spielst du mit?
Während Mutter und Kind am Versteckspielen sind, führt zur gleichen Zeit eine andere Mutter ihre zweieinhalbjährige Tochter an der Hand auf den Steinen den Beckenrand herum. Auch sie hören das Lachen und plötzlich bleibt das Mädchen stehen. »Ich auch«, sagt es zu seiner Mutter, und schon läuft es eigenständig zum großen Stein. Es beginnt zu meinen Erstaunen laut zu zählen: »1, 2, 3, 4 ... Mama!« Die Mutter und ihre Tochter, die soeben noch Versteck gespielt hatten, schauen jetzt dem Mädchen zu. Die andere Mutter zögert, doch dann versteckt sie sich schnell hinter einem Stein. Sie schaut, neugierig wie ein Kind, hinter dem Stein hervor. Sind sich die beiden Mütter bewusst darüber, wie bedeutsam das Spiel für ihre Töchter ist? Spontan und aktiv gehen sie auf das Bedürfnis ein, das deren Entwicklungsphase entspricht. Sie bieten ihm die Möglichkeit, vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip fortzuschreiten und ihr Selbstgefühl zu entwickeln. Dafür braucht es einen anderen Menschen, zu dem es Vertrauen hat und der auf das Abhängigkeitsbedürfnis des Kindes eingeht, es wahrnimmt und zurückspiegelt.
Der britische Kinderarzt und einflussreiche Psychoanalytiker D. W. Winnicott spricht in diesem Zusammenhang vom Trennungsschmerz als einem der größten Traumen menschlicher Existenz. Mit Hilfe der Illusion lernt ein Kind die Trennung zu ertragen. Es sucht Übergangsobjekte und erfährt Übergangsphänomene, wie die morgendliche Trennung von der Mama oder dem Papa, wenn es in der Krippe an eine pädagogische Fachkraft abgeben wird und am Nachmittag von der Fachkraft und den SpielgefährtInnen, wenn es von seinen Eltern wieder abgeholt wird. Beim Kleinkind wird der Trennungsschmerz in der Erscheinung und Entwicklung zwischen 6 und 15 Monaten beschrieben. Es erlebt bewusst, dass die Welt nicht »wir« ist, sondern dass die Mutter jemand anderes ist als »Wir«.
Ein Spielen in Zeit und Raum
In der aufregenden Verflechtung beim Spielen kann das Kind Üergangsphänomene erfahren und Vertrauen gewinnen. Winnicott bezeichnet das Verschwinden und Erscheinen zärtlicher Gefühle einen Dialog, der in einem intermediären Raum (Zwischenraum) stattfindet und in dem zwei Menschen Gefühle verschieden wahrnehmen. Also genau so, wie sich das Versteckspiel für Mutter und Kind verschieden darstellt, weil jeder seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet. Es bedarf der Fähigkeit des Erwachsenen sich dem Bedürfnis des Kindes anzupassen, und dem Kind damit die Illusion gewährt, dass das, was es erlebt, in der Realität existiert. Vielleicht ist das der Grund, warum in jedem von uns der Urinstinkt und das Ur-Bedürfnis zu spielen vorhanden ist.
»Ich angle und du bist der Fisch, der anbeißt, dann ziehe ich dich aus dem Wasser«, sagt Peter zu Hans. Er ist bereit,sich in einen Fisch zu verwandeln. Beide Jungs sind vier Jahre alt. Peter hält einen Stab in der Hand, an dem er ein Seil befestigt hat und ihn als Angel definiert. Sie lassen sich Zeit. Der Fisch sucht sich einen Platz im Raum, von wo er auf dem Bauch liegend losschwimmen will. Der Angler sitzt auf einem Tisch und tut so, als ob er die Angel ins Wasser wirft. Jeder gestaltet selbstbestimmt seine Rolle. Offen ist der Moment, wann der Fisch konkret anbeißt, um dann dem Wendepunkt im Spiel zu folgen.
Es geht um die offene Frage, wie Hans und Peter zusammenspielen werden. Hält das Seil? Gelingt es dem Angler den Fisch aus dem Wasser ziehen? Peter zieht mit Leibeskräften an der Angel, der Fisch hat endlich angebissen. Er steht auf, nimmt beide Hände ans Seil und tut alles ihm Mögliche, um den Fisch aus dem Wasser zu ziehen. Hans hält sich mit beiden Händen fest am Seil und lässt sich von Peter am Boden hin und her ziehen und er hilft ihm. Er krabbelt auf den Beinen mit. Vierjährige Kinder sind geistig in der Lage, klar zwischen Fantasie und Fakten zu unterscheiden. In dem Beispiel teilen Hans und Peter die Achtung für das illusionäre Erlebnis, jeder trägt Verantwortung und seinen Teil dazu bei, damit das gemeinsame Vorhaben gelingt.
Es ist eine natürliche Wurzel der Gruppenbildung bei Menschen. Sie beruht auf Spiegelung und Resonanz. Warum verlieren Erwachsene den Blick für vielfältige Lösungsmöglichkeiten? Und was macht ein Erzieher, wenn er plötzlich acht Kinder an einer Sprossenwand hängen sieht, die scheinbar alle auf einmal hinunter springen wollen? Und dass, obwohl er zu Beginn der Bewegungsstunde die Matten vor die Sprossenwand gestellt hat, damit die Kinder nicht hinauf klettern sollen. Doch jetzt sieht die Situation anders aus. Ich nenne diesen Moment die pädagogische Kränkung, die Ohnmacht und Hilflosigkeit, die man immer wieder im pädagogischen Alltag zu spüren bekommt, wenn Dinge anders laufen als erwartet. Eine Lösung will intelligent und spontan gefunden werden. Wie findet die Erzieherin oder der Erzieher eine Lösung? Ihre Herausforderung ist, blitzschnell eine Entscheidung zu treffen und unmittelbar zu handeln.
Gerburg Fuchs ist Bewegungspädagogin, M. A. Kindheit und Kinderrechte, FU Berlin. Seit 1990 freiberuflich tätig in der bewegungspädagogischen, therapeutischen und künstlerischen Arbeit mit Kindern und in der Erwachsenenbildung, als Autorin und Filmemacherin.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/18 lesen.