Kinderkunst aus aller Welt: Niederlande
Wie wird Kunst und kreatives Gestalten mit Kindern in anderen Ländern gelebt? In ihrer Reihe »Kinderkunst aus aller Welt« blickt die Pädagogin und Kunsttherapeutin Sibylle Haas mit uns über den eigenen Tellerrand in andere Kulturräume, Traditionen und Entwicklungen. Sie nimmt uns mit zu Treffen der internationalen Vereinigung »Art in Early Childhood« und prüft die Übertragbarkeit länderspezifischer Gestaltungformen. In diesem Beitrag schreibt sie – in Zusammenarbeit mit Sabine Plamper – über deren kreatives Arbeiten mit Kindern aus dem Kris Kras Atelier in Amsterdam, räumt mit der Idee auf, dass kleine Kinder immer große Formate bräuchten und gibt praktische, handfeste Empfehlungen.
Die Niederlande ist nicht nur das Land der kleinen Häuser, sondern auch der kleinen Kunstwerke. In Amsterdam treffe ich Sabine Plamper. Die aus Potsdam stammende Kulturpädagogin und Fotografin lebt hier seit vielen Jahren mit Mann und Kindern. Sie hat zusammen mit ihrer Kollegin Titia Sprey das Konzept des Atelier in een Koffer (Atelier in einem Koffer) und des Kris Kras Ateliers – zu deutsch Kritzel-Kraksel Atelier – entwickelt. Mittlerweile gibt es bereits mehrere dieser Ateliers in den Niederlanden.
Wichtigster Ausgangspunkt für ihre Angebote ist das Arbeiten ohne Thema und ohne Bewertung, wie es in den Malorten nach Arno Stern gehandhabt wird. Besonders gern arbeitet sie mit den ganz jungen Kindern – mit unterschiedlichen Materialien – auf kleinem Format.
Sabine Plamper gehört zu jenen Menschen, die dem Schaffen von jungen Kindern große Bedeutung zumessen und wissen, dass ungesteuertes freies Agieren mit Farben und Materialien selbstbewusst macht. Sie genießt die Freude der Kinder, etwas bewirken zu können, Selbstwirksamkeit zu spüren und zu wissen, dass das Werden wichtiger ist als das Endprodukt. Das gehört zu ihrer Lebensphilosophie und die ist in ihren Ateliers ganz praktisch zu erleben.
Ein Tag in Amsterdam
Ich treffe sie im Kinderatelier der Zentralen Bibliothek Amsterdam, wo sie hin und wieder Workshops für Kinder von 18 Monaten bis 6 Jahren anbietet. Sie arbeitet mit ihnen mit einem kleinen Format: 10x15 cm, DIN A6. Papier oder Karton, so groß und so fest wie Postkarten, meist weiß, aber auch in anderen Farben aus wiederverwertetem Papier, als Startbahn für Erfahrungen mit unterschiedlichen Stiften, Farben, Klebstoffen, Materialien.
Sie folgt damit nicht der weit verbreiteten Empfehlung, dass kleine Kinder beim Malen große Flächen brauchen, um sich möglichst mit ihrem ganzen Körper in den Gestaltungsprozess zu begeben und ausagieren zu können. Ihrer Erfahrung nach, genießt das nur ein Teil der Kinder. Andere werden unsicher, brauchen Grenzen und Rahmen. Deshalb ist die Frage des Formats für Sabine Plamper eher eine Frage der Reihenfolge. Sie bereitet für jedes Treffen im Atelier drei Tische oder besser gesagt, Experimentierfelder vor. Für die Kleinen erweitert sie das Spektrum allmählich, darauf achtend, dass weder Reizüberflutung noch Langeweile entsteht:
- Ein Zeichentisch nur mit A6 Karten, dazu Bleistifte, Buntstifte, Filzschreiber, Kreiden.
- Ein feuchter Experimentiertisch, z.B. mit Wasserfarben und mit Kleister angerührtem Farbpulver in kleinen Näpfchen. Wattestäbchen dienen als preiswerte, praktische Pinsel, die einiges aushalten und am Schluss ohne Sorge weggeworfen werden können. Mit Wattestäbchen zu arbeiten ist spannend und auch für Erwachsene überraschend, probiert es aus!
- Ein weiteres »trockenes« Angebot, manchmal z.B. ein Spiel mit Magneten oder mit einer großen Wanne mit 10 kg Linsen oder Reis.
Manche Kinder arbeiten die gesamte Kursstunde über an einer Station, andere wechseln nach einer gewissen Zeit und kommen ab und zu, zum Zeichnen auf kleinen DIN A6 Karten, zurück an den Zeichentisch. Sie können selbst Initiative ergreifen und ihrer Intuition folgen.
Die Faszination liegt in der Begeisterung für die Details. Es ist nicht selten, dass sich Jemand auch mal eine ganze Stunde mit der Gestaltung, Übermalung, Veränderung einer einzigen Karte beschäftigt. Dies betrifft Kinder, aber auch Erwachsene, die an Fortbildungen von »Atelier in einem Koffer« teilnehmen.
Das Arbeiten auf kleinem Format überrascht KursteilnehmerInnen häufig. In Fachbüchern steht ja oft noch immer, dass je jünger das Kind, desto größer das angebotene Papierformat sein sollte, weil junge Kinder noch keine ausgebildete Feinmotorik hätten. Inzwischen wird das kleine Format immer häufiger in Kindergärten und Schulen angeboten, wegen der Handlichkeit und auch gestützt durch Erfahrungen der Pädagogik in Reggio Emilia. In den Niederlanden dienen DIN A6-Gruppenbücher zunehmend auch als kreative Alternative für die oft noch verwendeten Ausmalbilder. Junge und ältere Kinder nehmen das kleine DIN-A6-Format begeistert an. Sie konzentrieren sich dabei sehr auf ihre Arbeit, im Bewusstsein, auf der nächsten Karte eine weitere Studie oder etwas ganz Anderes anfertigen zu können. Jedes Kind arbeitet in seinem eigenen Tempo. So kann ein Kind in einer Stunde 15 Zeichnungen gestalten, ein anderes neben ihm zwei bis drei Karten, an denen es ganz intensiv arbeitet.
Was spricht für das Postkartenformat?
- Die kleine Fläche ist leicht zu bewältigen. Kinder können, auf mehreren Karten, Verschiedenes ausprobieren. Dies erzeugt keinen Druck etwas Großes, Perfektes herstellen zu müssen.
- Der experimentelle Charakter des bildnerischen Gestaltens wird auf diese Weise unterstützt. »Ohne Stress trau ich mich, was zu probieren.«
- Die Erwartungen werden klein gehalten, so klein wie das Papier. Je freier das Experimentierfeld, desto deutlicher werden erste Erfahrungen sichtbar.
- Eine Serie von mehreren Karten kann Entwicklung aufzeigen und zum nächsten Versuch ermutigen: Wie viele Grüntöne kann ich aus gelb und blau mischen? Wie viel Wasser muss ich nehmen, damit das Blau so weißlich aussieht, wie der Himmel heute?
- Mit einem Stapel von Karten können auch draußen an einem kleinen Gartentisch einige Kinder arbeiten, ohne großen Aufwand.
- Die Karten brauchen weniger Platz beim Trocknen und Aufbewahren als große Malblätter.
- Der Papierverbrauch ist geringer, sodass lieber in die Stärke und Qualität des Papiers investiert werden kann. Druckereien haben übrigens oft Abfallpapier von sehr guter Qualität, fragt mal nach! Die Karten sollen sich bei feuchten Experimenten nicht wölben.
- Einzelne Karten können auch Beobachtungen der PädagogInnen oder von Eltern enthalten, also kurze eingefügte Lerngeschichten, die die Arbeit der Jungen und Mädchen würdigen.
- Die Karten haben die Wirkung, sich später an bestimmte Techniken, Effekte und Materialien zu erinnern, die weiter verwendet, gemixt und variiert werden können.
-
Es entsteht ein Bilderbuch und Merkbuch, ein Fundus für weitere Entdeckungen.
Ein Büchlein entsteht
Mir gefällt die Idee, wie Sabine Plamper die Ergebnisse sammelt und bündelt. Am Ende einer Werkstattphase mit 6 Terminen sortiert sie die getrockneten Karten für jedes Kind, locht sie an der linken oberen Ecke und bindet sie mit einem Schlüsselring mit verschließbarem Scharnier zu einem kleinen Büchlein. Mit einem Durchmesser von 3 bis 4 Zentimetern können bis zu 50 Karten gebunden werden. Manche Bücher sind dick, manche dünner und jedes ist einzigartig, eine bleibende Erinnerung. Die Interessen und die Entwicklung eines Kindes werden auf diese Weise sichtbar. Ich kann beobachten, wie aufmerksam die Kinder ihre gebundenen Büchlein durchblättern und ihren Eltern zeigen. In einem Buch ist zum Beispiel eine intensive Auseinandersetzung mit Bussen als täglichem Verkehrsmittel zu erkennen.
Größere Schlüsselringe kann man verwenden, um ein Gruppensammelbuch mit allen Kritzel-Kraksel-Zeichnungen herzustellen. Solch ein Sammelbuch kann über mehrere Wochen oder Monate immer dicker werden. Die Kinder schauen es sich immer wieder gern an und lernen viel voneinander. Die Größeren erzählen, mit welchen Mitteln eine Karte gestaltet wurde. Das ist Sprachförderung!
Als Deckblatt für die individuellen Bücher gibt es eine Klarsichtfolie mit dem Namen des Kindes und dem Jahr der Entstehung. Sabine Plamper hat da-für den Titel »Spuren und Zeichnungen von …« auf Klarsichtfolie vorbereitet. Auf ein DIN-A4-Blatt bekommt sie vier DIN-A6-Titelfolien. Die Vorlage lässt sie im Kopierladen als Overheadfolien drucken und schneidet das dann zurecht. Dieser Luxus ist schön und unterstreicht die Wertschätzung der Experimente. Das Titelblatt verbindet die Arbeiten der Kinder und könnte auch den Namen der Einrichtung enthalten.
Und es geht auch noch einfacher: nur Klarsichtfolie mit Folienschreiber und einer gut lesbaren Handschrift, gebündelt mit einem schönen Band.
Aus der Sicherheit im Umgang mit kleinen Formaten werden später Impulse zu großflächigem Arbeiten deutlich. Dann wird z.B. zum gemeinsamen Malen auf einer 50x70 cm großen, recycelten Leinwand eingeladen. Darauf können auch Fundstücke aufgeklebt und Material für Collagen eingefügt werden.
Sibylle Haas ist Diplom-Pädagogin, Kunsttherapeutin und systemische Beraterin. Sie hat sich intensiv mit Lernwerkstätten und Lerngeschichten beschäftigt, viele Jahre den fachlichen Austausch mit Kolleginnen aus Neuseeland gesucht und damit die neuseeländische Art Lerngeschichten zu schreiben in Deutschland bekannter gemacht.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/19 lesen.