Die Suche nach dem Wir (Teil 2)
Der Versuch, *Kultur als Erklärungsmodell für bestimmtes Verhalten – »die Türken, die Russen, die Franzosen, die Deutschen, die machen das halt so ...« – heranzuziehen, ist meist verbunden mit unreflektierten Zuschreibungen und Abwertungen. Das widerspricht den Menschenrechten, verstärkt Vorurteile und Stereotype und bringt uns auseinander statt zusammen (Teil 1 siehe Betrifft KINDER 07-08/19). Dass wir dringend unsere Kulturbrille absetzen und mehr auf individuelle Kontexte, persönliche Neigungen und mögliche aktuelle Bedürfnisse achten sollten, zeigt die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani an einem Thema, das für jede und jeden relevant ist: am Essen.
Am Tisch sitzen sechs Kinder mit einer Erzieherin. Es gibt Kartoffeln mit Spinat und Ei zum Mittagessen. Amir ist sehr »redefreudig«, scherzt herum, erzählt viel und sagt dann schließlich lachend, während er sich Spinat auffüllt, zu der Erzieherin: »Wir essen nie zu Hause mit dem Messer!« Die Erzieherin fragt daraufhin: »Echt?? Nie? Wie esst ihr denn zu Hause?« Amir lacht und sagt: »Mit der Hand?« »Habt ihr keine Stäbchen?«, fragt daraufhin ein Mädchen und macht mit ihren Fingern eine Scherenbewegung. »Häää?«, fragt Amir abwehrend. Die Erzieherin erklärt daraufhin: »Stäbchen, das ist bei den Chinesen! Mit der Hand essen arabische Leute. Mit einer bestimmten Hand habe ich mal gehört: Eine Hand bleibt sauber, mit einer isst man!« Amir guckt etwas irritiert, nickt dann aber, woraufhin die Erzieherin zufrieden scheint.
Dass die Erzieherin die Äußerungen der Kinder mit der »Kulturbrille« wahrnimmt und ihnen unterschiedliche Arten zu essen vor dem Hintergrund der Herkunft erklärt, ist nicht notwendig. Ihr Hinweis ist zudem auch nicht sachkundig, da sie Amir pauschal mit »den arabischen Leuten« in Verbindung bringt. Äußerungen der Kinder können viele Gründe haben. Vielleicht hat Amir keine Lust, das Messer zu nehmen, vielleicht denkt er an bestimmte Speisen oder seine Aussagen sind gar nicht ernst, sondern eher scherzhaft dahingesagt? Für letzteres könnte die Art und Weise sprechen, wie er sich mitteilt: lachend. Dasselbe gilt für ihre Verortung der Verwendung von Essstäbchen bei »den Chinesen«. Sicherlich ist diese Esstechnik in asiatischen Ländern mehr vertreten als in Deutschland. Letztlich aber ist sie eine Esstechnik von vielen und zudem eine, die auch in Deutschland Alltag für viele Kinder und Familien ist.
Hätte die Erzieherin anders reagiert, wenn ein Kind ohne *offensichtlichen *Migrationshintergrund dasselbe auf dieselbe Art gesagt hätte? Oder wie würde sie reagieren, wenn eine *deutsche Mutter ihr Kind mit dem Anliegen, dass es kein Fleisch essen soll, in der Kita anmeldet? Würde sie von vornherein einen *kulturellen oder religiösen Hintergrund vermuten? Oder würde sie eher davon ausgehen, dass dem Anliegen eine persönliche Überzeugung, ein individueller Lebensstil, z.B. die Entscheidung, vegetarisch oder vegan zu leben, zugrunde liegt? Würde sie sich bei einer Mutter mit demselben Anliegen und *offensichtlichem *Migrationshintergrund offen und interessiert zeigen oder würde sie die Verknüpfung *Islam = *muslimisch herstellen und z.B. »Also kein Schweinefleisch?« nachfragen?
Was heißt hier typisch?
Welche Antworten werden gesucht, wenn *Kultur als Erklärungsmuster hinzugezogen wird? Dient *Kultur zur Bestätigung von Annahmen, die man im Kopf hat, oder dazu, befremdliches Verhalten plausibel zu machen? So oder so: *Kultur scheint lediglich in bestimmten Situationen und in Bezug auf bestimmte Menschen als Erklärung für befremdliches Verhalten zu dienen, obwohl im Grunde genommen jedes Verhalten eine Ausdrucksform der eigenen *Kultur ist und gute, auf der Grundlage der eigenen Perspektive berechtigte Gründe hat. Wer und was aber ist gemeint, wenn z.B. in Kita-Teams von der *eigenen oder von *unserer *Kultur gesprochen wird?
In einer Teamfortbildung sammelten ErzieherInnen Aspekte, die sie mit der *deutschen *Kultur verbinden oder die als sie typisch deutsch erachten: Pünktlichkeit, Sauberkeit, Vereine, Baustellen, Ampeln, Schrebergarten, Bayern, Eigenschaften wie spießig, steif, humorlos, kleinkariert, aber auch Brezeln, Kartoffeln und Brot. Zum einen also offensichtliche Aspekte und zum anderen weniger offensichtliche, wie Werte, Eigenschaften und Einstellungen. Weder die einen noch die anderen bedeuten im Umkehrschluss, dass sich alle EinwohnerInnen damit identifizieren oder diese gleichermaßen leben.
Was unsere Gesellschaft heutzutage ausmacht, ist Vielfältigkeit und Freiheit an Lebensformen. Die *Esskultur ist dafür ein anschauliches Beispiel. In deutschen Bäckereien z.B. finden wir – im Vergleich zu anderen Ländern – eine große Vielfalt an Brotsorten. Das kann als eine Form einer sichtbaren *Esskultur bezeichnet werden. Diese sichtbare Form von *Kultur sagt aber nichts darüber aus, ob und wie sich einzelne Menschen damit identifizieren oder diese ausleben. Z.B. in Bezug auf das Brot zum Frühstück: Viele Menschen essen zum Frühstück Brot, ähnlich viele Menschen essen etwas anderes, andere frühstücken gar nicht und zwar unabhängig von einem *Migrationshintergrund, aber innerhalb eines gemeinsamen gesellschaftlichen Kontextes.
Caroline Ali-Tani M.A. arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn im Arbeitsbereich »Inklusive Pädagogik« insbesondere zu den Themen Inklusion, Vielfalt, Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/19 lesen.