Mit Lerngeschichten wachsen
Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen haben einen wunderbaren Beruf, doch sie sind auch hohem Stress ausgesetzt. Zeit- und Personalmangel, hoher Geräuschpegel und auslaugende Rahmenbedingungen belasten ErzieherInnen überdurchschnittlich. Wie die Arbeit mit Lerngeschichten entlasten kann, beschreiben Kornelia Schneider und Jutta Gruber ihrer Reihe.
Unzureichende Rahmenbedingungen hinterlassen Spuren. Spätestens wenn noch geschicktere Organisation oder Fortbildungen zu Zeitmanagement, Stressbewältigung und -reduzierung die Belastung nicht mehr ausgleichen können, stehen Leitungen, Teams oder einzelne Fachkräfte vor mindestens zwei relevanten Fragen. Erstens: Kann der laufende Betrieb und die pädagogische Qualität noch aufrechterhalten werden? Zweitens: Ist das möglich ohne über kurz oder lang unsere psychische oder physische Gesundheit zu riskieren?
Wenn nichts mehr geht, gibt es wiederum zwei Möglichkeiten. Erstens: Eine Krankschreibung oder gleich die Reißleine ziehen und sich beruflich umorientieren oder sich demonstrativ selbst anzeigen, wie die Fröbel-Gruppe im Frühjahr 2018.1 Zweitens: Systemsprenger werden, wie die neunjährige Bernadette im gleichnamigen Film, gefühlte Tonnen von Methodenballast, gutgemeinten Handreichungen und Empfehlungen abwerfen und sich auf die eigenen Stärken besinnen. Wir favorisieren, neben dem dringend gebotenen politischen Aufbegehren, die Rückbesinnung auf das Wesentliche – auf das, was für das Lernen der Kinder wirklich wichtig ist und uns gesund erhält. In der Arbeit mit Lerngeschichten erkennen wir großes Potenzial. Für beides!
Anfangs mag es den Eindruck erwecken, dass es sich bei der Arbeit mit Lerngeschichten um eine weitere von vielen Methoden handelt, eine zusätzliche Aufgabe. Das stimmt nicht. Die Bildungsprozesse der Kinder zu dokumentieren, gehört im Grunde seit der Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990 und spätestens seit der Verabschiedung der Bildungspläne zu unseren Aufgaben. Lerngeschichten zu schreiben muss nicht aufwendiger sein als andere Arten der Dokumentation. Wir empfehlen sie, weil sie darüber hinaus unseren pädagogischen Alltag erleichtern, unsere Beziehungen und das Klima in der gesamten Einrichtung entspannen – was sich übrigens unmittelbar und positiv auf die Dezibel des Geräuschpegels auswirkt.
Weniger ist mehr?
Sobald wir die pädagogische Haltung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, verstanden und verinnerlicht haben, wird vieles, was zuvor unverzichtbar schien, unnötig bzw. kann durch eine einzige Maßnahme – das Schreiben einer Lerngeschichte – erledigt werden. Das erleichtert unseren Alltag, weil unsere Aufgabe nicht mehr darin besteht, permanent Angebote zu entwickeln und durchzuführen, sondern die Kinder in ihrem Tun zu beobachten und zu versuchen, ihre Interessen zu erkennen.
Wenn die Arbeit mit Lerngeschichten erst einmal zum pädagogischen Alltag gehört und wir gewohnt sind zu verfolgen, wie sich Kinder etwas aneignen, und mit ihnen darüber in Austausch zu kommen, verändert sich unser Verständnis von der Rolle der pädagogischen Fachkraft. Wir sind dann nicht mehr Vorausdenkende und BildungsbestimmerInnen, sondern BildungsbegleiterInnen, d.h. WeggefährtInnen, die mit dem, was von den Kindern kommt, mitgehen. Freude kehrt ein, Stress fällt weg und Aktivismus und Lernzielorientiertheit weichen dem Interesse für das, was jetzt gerade geschieht – in der Erwartung eines magic moments, eines Moments, in dem ein Kind beim Lernen zu leuchten beginnt.
Kornelia Schneider war wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut. Ihre Forschungsgebiete sind frühe Bildung, Forschendes Lernen, Beziehungen unter Kindern und Lerngeschichten. Sie ist seit 2005 im Austausch mit den neuseeländischen Expertinnen für die Arbeit mit Lerngeschichten und Herausgeberin von »Mit Lerngeschichten wachsen« (erscheint im verlag das netz).
Kontakt
Jutta Gruber ist Journalistin, Lektorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Beim Lektorat von »Mit Lerngeschichten wachsen« staunte sie über die Ähnlichkeit zu der ihr aus der Körperpsychotherapie vertrauten Haltung, die nicht wertet und ausnahmslos allem, was sich zeigt, mit Interesse begegnet.
Kontakt
1 Vgl. www.froebel-gruppe.de/aktuelles/news-single/artikel/pnn-kita-traeger-zeigt-sich-selbst-an/ (25.10.2019)
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/19 lesen.