Was Kinder wirklich brauchen
Was brauchen wir wirklich? Wie können wir in Zukunft leben? Fragen wie diese markieren die Bereitschaft, Gewohntes zu reflektieren und Altes neu zu denken. An eine der dringlichsten Herausforderungen unserer Zeit erinnern uns Freitag für Freitag unsere Kinder: den Klimawandel. Wenn wir die Sorge für unseren Planeten und die Sorge für unsere Kinder zusammendenken, gelangen wir geradewegs zur Frage nach unserer wahren Natur. Ein Beitrag von Daniela Seibert und Jutta Gruber.
Zeit in der Natur schenkt Kindern die Erfahrung, dass alles da ist, was sie brauchen. Sie lässt uns aufatmen und darauf besinnen, was wirklich wichtig ist. Im Garten, auf einer Wiese oder im Wald: Unsere Sinne, die sich in der Reizüberflutung des Alltags geschlossen hatten, öffnen sich wieder. Wo eben noch Gedanken waren, breitet sich Ruhe aus. Die Hektik des durchgetakteten Tagesablaufs und Termindrucks fällt von uns ab und der erhöhte Stresspegel, den wir sogar schon bei den Jüngsten beobachten, sinkt.
Ein gesunder Lebensstil und eine gesunde Entwicklung sind ohne Natur undenkbar – ohne die äußere als auch ohne die innere. Beide sind strapaziert und die Ressourcen erschöpft. Vielleicht brauchen alle mehr Raum für wahre Natur: unser Planet und wir und vor allem unsere Kinder?
Dass unser gesamter Organismus in der Natur zur Ruhe kommt, ist vielfach belegt.1 Das Waldbaden z.B., das auch bei uns zunehmend praktiziert wird, ist bereits seit Anfang der 1980er-Jahre in Japan als Heilmethode2 anerkannt und wird sogar von der staatlichen Gesundheitsbehörde gefördert. Für diese Art Bad tauchen wir mit allen Sinnen in das ein, was Wald zu bieten hat. Wir streicheln die hochgewachsenen Gräser am Wegesrand, riechen die Erde und den Tannenduft. Vielleicht finden wir intensiv schmeckende Walderdbeeren oder Pilze für das Abendessen? Wir sehen unendlich differenzierte Grün- und Brauntöne, hören Steinchen unter unseren Schuhen knirschen oder das Knarzen der Bäume im Wind. Wir brauchen keine Eintrittskarte und müssen, bevor wir wieder gehen, nicht einmal Aufräumen.
Der Schlüssel für die gesundheitsfördernde und -erhaltende Wirkung von Natur liegt vermutlich in unserem Immunsystem. Dies hat der österreichische Biologe Clemens G. Arvay untersucht und den Biophilia-Effekt3 genannt. Demnach aktivieren gasförmige Terpene, die von Pflanzen und Bäumen ausgeschüttet werden, nicht nur deren Immunsystem, sondern auch unseres.
Immer schon draußen zu Hause
Evolutionsbiologen wiederum erklären die entschleunigende, gesundheits- und entwicklungsfördernde Wirkung von Natur damit, dass wir die längste Phase unserer Entwicklungsgeschichte in und mit der Natur verbrachten. Erfahrungen wie das Sammeln von Früchten und Kräutern, das Jagen, um unser Überleben zu sichern, die lebenswichtige Bedeutung des Feuers und das Erleben von Gemeinschaft waren grundlegend.
Unberührt davon, dass sich unser Leben sehr verändert hat, stimulieren die in jener Zeit geprägten Erfahrungen bis heute Regionen in unserem Gehirn. Dass wir uns im Grunde immer noch draußen zu Hause fühlen, zeigt sich auch an den sinnlichen, sensomotorischen und sozialen Bedürfnissen unserer Kindern. Wenn sie mit Wasser, Sand, Erde oder Matsch in Berührung kommen, am Feuer sitzen oder sich ins schattige Gebüsch verkriechen dürfen, um ungestört in ihrem Spiel zu sein, dem Wind und der Kälte trotzen zu können, sind sie in »ihrem Element«. Die Folgen davon, dass nur etwa die Hälfte unserer Kinder im Freien spielt oder schon einmal ohne Hilfe auf einen Baum geklettert ist4, hat zum Glück das öffentliche Bewusstsein erreicht und den Beginn einer Kehrtwende eingeläutet.
Der engagierte US-amerikanische Sachbuchautor und Journalist Richard Louv z.B. entfachte mit seiner 2005 im englischen Original und 2011 auf deutsch erschienenen Publikation Das letzte Kind im Wald eine internationale Debatte über die Beziehung von Kind und Natur. In seinem, in bislang 15 Sprachen aufgelegten Buch fasst er Untersuchungen zusammen, die darauf verweisen, dass die Nichtkenntnis und das Nicht-mehr-Erleben natürlicher Rhythmen und Erscheinungen Symptome wie Fettleibigkeit, Minderung der Sehkraft, Konzentrationsschwächen oder Aufmerksamkeitsstörungen nach sich ziehen können. Im Umkehrschluss zur Erkenntnis, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitstörung von Aufenthalten in der Natur profitieren, prägte er den unsere Entfremdung umfassend beschreibenden Begriff der NaturDefizit-Störung5.
Mit seinem Buch Mehr Matsch. Kinder brauchen Natur6, das ebenfalls 2011 erschien, schließt Andreas Weber an Louvs Aussagen an und distanziert sich zugleich. Er sagt, dass Aufenthalte in der Natur unsere emotionale Bindungsfähigkeit, unsere Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude nur dann stärken können, wenn man sich von der Idee der Nützlichkeit befreit. Deshalb bewertet er Louvs Appell für mehr »Naturbildung« ebenso kritisch wie die Perspektive von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Naturbegegnung sei keine Art »Vitamin N«7, das wie ein Medikament verabreicht wird: »Wir können nur dann mit dem Leben in Kontakt treten, wenn wir uns darin riskieren, wenn wir ihm gegenüber frei sind und wenn wir nicht rechnen, abstrahieren, planen und designen, sondern wenn wir fühlen. Und nur dann treten wir auch in Kontakt mit uns selbst.«8
Daniela Seibert ist Sozial- und Naturpädagogin und Fortbildungsreferentin für Fachkräfte in Kitas und lebt in Münstertal bei Freiburg im Breisgau.
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Jutta Gruber arbeitet als Redakteurin bei verlag das netz, Körpertherapeutin und Coach.
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1 Nachdem die Universität Rostock 2016 nachwies, dass der Aufenthalt in einem Garten innerhalb weniger Minuten positive Wirkungen auf das Wohlbefinden von Körper, Geist und Seele hat, entwickelten Fachleute aus Forschung und Praxis einen viersemestrigen Zertifikatskurs. Dieser wird zur Zeit nicht angeboten. Stattdessen aber kann man den vierwöchigen Onlinekurs Gartentherapie belegen. Er ist für jedermann offen und kostenfrei. Geben Sie dafür das Stichwort »Gartentherapie« in die Suchfunktion auf www.uni-rostock.de ein. Allgemeine Informationen, Fortbildungen und Zertifizierungskurse auch zu Gartentherapie in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen finden Sie auf www.iggt.eu, der Seite der Internationalen Gesellschaft Gartentherapie.
2 Vgl. Miyazaki Y. (2018): Heilsames Waldbaden: Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem. Güthersloh
3 Siehe u.a. Arvay C. G. (2016): Der Biophilia-Effekt: Heilung aus dem Wald. Wien. Der Begriff Biophilia (von altgriechisch »bios« Leben und »philia« Liebe) geht zurück auf den US-amerikanischen Evolutionsbiologen Edward Osborn Wilson. Er formulierte 1984 im gleichnamigen Buch die Theorie, dass Menschen eine angeborene Freude an der Natur haben und gerne mit anderen Lebewesen und der Natur an sich in Verbindung treten (zitiert nach Greiner K., Kiem M. (2019): Wald tut gut! Stress abbauen, Wohlbefinden und Gesundheit stärken. Aarau, S. 57). Damit popularisierte er den von Erich Fromm 1964 in »Die Seele des Menschen« eingeführten Begriff Biophilie.
4 Jugendreport Natur 2016
5 Vgl. Louv R. (2011): Das letzte Kind im Wald. Geben wir unseren Kindern die Natur zurück! Weinheim, S. 130
6 Das Buch mit dem wunderbaren Titel »Mehr Matsch« wurde 2016 unter dem Titel »Natur tut gut. Warum Kinder draußen glücklicher sind« mit neuem Vorwort neu aufgelegt.
7 Vgl. Weber A. (2018): Natur tut gut. Warum Kinder draußen glücklicher sind. Berlin, S. 10f
8 Ebd. S. 12
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2020 lesen.