Wie Atelierarbeit das Denken verändert
Wie sich Denken, Lernen und (Er-)Leben verändern, wenn alle Bildungsräume Atelier-, bzw. Werkstattcharakter haben, berichten die Kunsttherapeutinnen Angelika Preß und Rabea Müller vom Atelier artig in Köln und die Atelierista Simone Nonnenbruch vom nordrhein-westfälischen Familienzentrum St. Margareta.
»Hör mal, hör mal!« – der dreijährige Carlo möchte sich mitteilen. Er hat etwas entdeckt. Er hat etwas gehört. Er nimmt ein Blatt Papier aus der Malecke und malt darauf mit einem dicken Stück Kohle rhythmische Wellen. Dabei blickt er immer wieder aus dem Fenster, sagt »hör mal« und zeigt auf den Baum, der sich dort im leichten Wind wiegt. Er malt, was er wahrnimmt: das Rauschen der Blätter im Wind. Mit der Visualisierung kommuniziert er seine Hörwahrnehmung. Was Kinder von sich aus machen, müssen wir Erwachsenen oft erst wieder lernen. Einfache Dinge wie Geräusche wahrnehmen und den Mut finden, sie in Form und Farbe zu bringen, wie die Erzieherin Claudia. Sie malt mit Kohle lange und kräftige Striche, die in ihrer Monotonie das Piepen einer defekten Parkschranke ausdrücken sollen. Dieses Geräusch hatte auf dem Weg zur Weiterbildung ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen: »Es war so laut und eindringlich, dass es die gesamte Geräuschkulisse dominiert hat.«
Angehende Atelieriste berichten von zunehmender Kompetenz und Gelassenheit im Umgang mit Materialien und, wie Claudia, von der wundersamen Beobachtung, dass bewusste Wahrnehmung von Wirklichkeit unserer Fantasie Flügel verleiht. Die Erfahrung, dass jedes Objekt eine spannende Geschichte erzählt, wenn man genau hinschaut, berührt. Sie befähigt uns, Kinder sensibel zu begleiten, ihren Fragen und Ideen zu folgen und uns eins zu eins auf ihre Prozesse einzulassen. Wenn wir ihnen und uns hundert Sprachen erlauben, wird das Spiel mit Materialien sie und uns bewegen: Immer neue Handlungsebenen werden immer neue Ausdrucksformen hervorbringen und diese wiederum immer neue Fragen und Ideen. Im Gestaltungsprozess unterscheiden sich Kinder kaum von Erwachsenen: Wir freuen uns, wenn etwas gelingt, wir ärgern uns, wenn etwas misslingt, und wir profitieren von individueller Ansprache und Begleitung. Vom Eindruck zum Ausdruck »Wie groß ist ein Babywal?«, fragt Constantin und formt auf der Suche nach einer Antwort mit Maya im Sandkasten einen Babywal. Sie sind sich einig: »Babywale sind viel größer als kleine Geschwisterkinder.« Immer mehr Sand wird zusammengeschoben. Sie legen sich neben ihren geformten Wal. »Schau mal, jetzt ist er größer als ich«, sagt Maya. Kinder gestalten und malen, um Dinge zu begreifen, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Ohne dass Erwachsene sie dazu auffordern, werden sie von ihrer natürlichen Neugier geleitet. Antonia und Sarah gefällt Constantins und Mayas Spiel. Sie wollen mehr über Wale erfahren. Mit Kohle, Blei- und Grafitstift machen sie erste Zeichnungen. Zuerst interessiert sie die Form der Tiere. Dabei treten Fragen auf: »Sehen Schwanzflossen von Walen alle gleich aus? Stehen sie senkrecht oder waagerecht?« Ihre Zeichnungen werden immer differenzierter, weil immer mehr Wissen in ihr Tun einfließt.
Neue Fragen – »Welche Augenfarben haben Wale?«, »Haben Wale Wimpern?« – führen zu neuen Erkundigungen bei den PädagogInnen und Recherchen in Fachbüchern und zu neuen Prozessen mit weiteren Materialien wie Farbe, Ton und Draht. Die Kinder entwickeln sich zu wahren ExpertInnen für den von ihnen gewählten Themenbereich. In der Praxis der Atelierarbeit dient Kunst als Instrument, die Wirklichkeit und die Welt zu verstehen. Fragen, Ideen und Vorstellungen werden im Dialog mit dem Material kommuniziert. In Ateliers und Werkstätten sind alle Sinne beteiligt, wenn sich die Wahrnehmung der Kinder im Zusammenspiel alltäglicher Erfahrungen (hören, schmecken, fühlen, sehen, riechen) über spielerisches Tun in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt – und zwar bereits ab dem frühesten Krippenalter: Ella (1;2) schmiert beim Mittagessen mit der Tomatensoße freudig glucksend über den gesamten Tisch und hinterlässt mit ihren Fingern Spuren auf dessen Oberfläche. Im Atelier wiederholt sie dies mit Fingerfarben auf Papier. Dieses sogenannte Spurenschmieren beginnt im Alter von etwa 10 Monaten und gilt entwicklungspsychologisch als Meilenstein der Malentwicklung. Wenn ein Kind entdeckt, dass es bleibende Spuren in der Welt hinterlassen kann, wiederholt es dieses Spiel immer wieder. Dies ist der Anfang der Atelierarbeit. In der aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umgebung und dem künstlerischen Material beginnt es seinen Ausdruck mit Farbe und Formen und eine Bildsprache zu finden.
Simone Nonnenbruch ist Erzieherin, Atelierista im Familienzentrum St. Margareta und Fortbildnerin. Gemeinsam mit Angelika Preß und Rabea Müller, Kunsttherapeutinnen und Geschäftsführerinnen der Akademie artig und Atelier artig GmbH, führt sie Atelierista-Weiterbildungen in Köln durch.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2020 lesen.