Wie junge Kinder die Pandemie erleben
Die Corona-Krise hat uns immer noch fest im Griff und belastet unseren Alltag und die Beziehungen zu unseren Mitmenschen enorm. Wie gehen Kinder mit der Situation um? Wie nehmen sie diese wahr und wie meistern Kinder die Herausforderungen, vor die die Krise auch sie stellt? Perah Midbar Alter und Heidi Keller haben in einem Kindergarten in Jerusalem Erstaunliches erlebt und berichten darüber.
»Corona war so groß wie hundert Millionen und jetzt ist es wie elf.« (Yotam, 3.5)
Täglich strömt eine Flut von Informationen aus unterschiedlichen Kanälen auf uns ein: Medien, Mitmenschen, Umwelt und vieles mehr. Erwachsene können in aller Regel entscheiden, welche Informationen sie zulassen, wann sie das tun und wie viel davon. Sie haben die Option zu entscheiden, welche Informationen sie annehmen oder ausschließen. Sie bestimmen selbst über ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben und können zwischen Alternativen wählen. Diese Entscheidungs- und Handlungskompetenz (agency) zeichnet Erwachsene als AkteurInnen aus. Im pädagogisch und psychologischen Diskurs wird hier von der Autonomie des Individuums gesprochen, d.h. der Kompetenz und dem Recht, unabhängig und selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln.
Im Gegensatz zu Erwachsenen leben Kinder in einem völlig anderen Entscheidungs- und Handlungsszenario. Zwar definieren die kindzentrierten Ansätze kindliche Bedürfnisse und Wünsche als handlungsleitend für das erzieherische Handeln in der Familie und die pädagogische Arbeit in Institutionen. Auch der Wunsch nach Handlungsalternativen und Wahlmöglichkeiten wird als ein kindliches Bedürfnis angenommen, und Kindern wird von Anfang an Autonomie zugesprochen.
In der Realität sieht es jedoch so aus, dass Kinder in seltenen Fällen unabhängige Wahlen und Entscheidungen treffen können. Erwachsene filtern die Informationen, die das Kind erreichen, und definieren dessen Handlungsraum. Sie legen fest, was Kinder erfahren, wann und wie viel. Sie definieren die Handlungsalternativen, zwischen denen das Kind entscheiden kann. Die kindliche Autonomie ist in der Realität eine Autonomieillusion (Keller, 2012). In Krisenzeiten steht dieses Szenario auf dem Prüfstand. Die Corona-Pandemie bietet sich deshalb an, diese Situation einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Das Corona-Virus ist aller Wahrscheinlichkeit nach zum ersten Mal in China aufgetreten. Im Dezember 2019 begannen international Berichterstattungen zu diesem Thema. Am 27. Februar 2020 wurde der erste Corona Patient in Israel identifiziert. Von diesem Moment an wurden alle öffentlichen Instanzen im Gesundheitswesen, der Regierungsverantwortung und den Gesetzgebern mobilisiert, um gegen die Pandemie zu kämpfen. Am 13. März 2020 wurde festgelegt, dass die Kindergärten schließen, was am selben Tag in die Tat umgesetzt wurde. Diese Situation war für viele Kinder auch das erste Mal, dass sie von dem Corona-Virus hörten, ohne Vorbereitung wurden sie damit konfrontiert. An diesem Tag änderte sich das Leben der Kinder in Israel schlagartig, vollständig und ohne Vorwarnung. Inzwischen wissen wir, dass wir alle in absehbarer Zeit nicht zu einer uns gewohnten Normalität zurückkehren werden.
In der Zeit vor der Schließung der Kindergärten haben sich viele Fachleute und KindheitsforscherInnen öffentlich geäußert, wie man Kinder am besten über das Corona-Virus informiert. Die meisten dieser ExpertInnen gehen davon aus, dass das in alleiniger Verantwortung der Eltern liegt. »Die Menschen, die Kindern am nächsten stehen, sind die Eltern. Bevor wir (die Eltern) versuchen, sie (die Kinder) zu beruhigen, ist es wichtig, dass wir uns selbst beruhigen. Kinder beobachten Ihr Verhalten und Ihre Emotionen und lernen so mit der Zeit mit ihren Emotionen umzugehen«, riet die bekannte Kindheitsexpertin Prof. Michal Daliot-Bul in einer Stellungnahme in einer großen israelischen Tageszeitung.
Michal Daliot-Bul präsentiert die verbreitete Sichtweise von Fachleuten in diesem Bereich – nicht nur in Israel. Sie geht davon aus, dass Erwachsene Kindern den Zugang zur Welt eröffnen und die Perspektiven bereitstellen, die Welt wahrzunehmen. Daraus resultiert natürlich eine mehr oder weniger reaktive und passive Rolle des Kindes, obwohl in der Fachliteratur die aktive Rolle des Kindes an seiner Entwicklung immer wieder betont wird – einer der vielen Widersprüche, die unerkannt in unseren pädagogischen Ansätzen stecken. Das Kind wird so eher nicht als Akteur gesehen. Kinder sind demnach auch nicht in der Lage, der Welt ihren Stempel aufzudrücken. Damit sind sie abhängig und eigentlich auch machtlos.
Wir wollen hier eine andere Sicht präsentieren. Diese steht im Widerspruch zu den Verlautbarungen der israelischen, der deutschen und vieler anderer Regierungen bezüglich des Umgangs von Kindern mit der Corona-Krise. Wir sehen Kinder als soziale AkteurInnen, die durchaus in der Lage sind, auf ihre Umwelt einzuwirken und diese Rolle auch verantwortungsbewusst zu übernehmen. Wir wollten herausfinden, wie die kindliche Sicht auf die sie umgebende Situation ist und wo sie ihre Rolle und ihre Verantwortung sehen – aus ihrer eigenen Perspektive. Unsere Strategie arbeitet von unten nach oben, wobei wir mit Kindern zu diesen Themen gesprochen und daraus ihr Verständnis der Situation und ihrer Rolle darin analysiert haben. Perah Midbar Alter interviewte 15 Kinder zwischen drei und fünf Jahren aus dem Kindergarten der Hebrew Universität in Jerusalem. Zusätzlich sprach er mit den Kindern über das Thema, nachdem der Kindergarten wieder geöffnet war – unter veränderten Bedingungen.
Die Aussagen der Kindern machten deutlich, dass sie trotz fehlender Vorbereitung der Kinder und der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Situation in der Pandemie, ihren Platz in der Familie als bedeutend, aktiv und verantwortlich wahrnehmen. Die Kinder sprachen darüber, wie sie sich als AkteurInnen verstehen und wie sie als solche handeln. Sie zeigten ihre Kompetenz, Veränderungen in ihrer Umwelt zu bewirken, und zwar sowohl konkret durch Handlungen, aber auch dadurch, wie sie ihr Handeln wahrnehmen und interpretieren. Es wurden vier Schlüsselkompetenzen deutlich, die eine wichtige Rolle spielten: Fähigkeit, Verantwortung, Initiative und Bewusstheit.
Fähigkeit
»Da war viel freie Zeit, da habe ich meine Eltern auf lange Spaziergänge mitgenommen.« (Michal, 5.1)
Michal ist die Tochter geschiedener Eltern. Ihr Vater ist sehbehindert und ihre Mutter hat gerade eine Chemotherapie wegen einer fortgeschrittenen Krebserkrankung abgeschlossen. Michal verbrachte die meiste Zeit der Quarantäne in der Wohnung ihrer Mutter. Aufgrund der Immunschwäche und des generell geschwächten Gesundheitszustandes der Mutter mussten sie eine strikte Selbstisolation einhalten und es vermeiden, anderen Menschen zu begegnen. Als wir Michal fragten, wie sie in dieser Zeit dafür gesorgt hat, dass ihre Eltern mehr Spaß haben, antwortete sie, dass sie ihre Eltern zu langen Spaziergängen überredete. Sie erklärte, dass die Tatsache, dass sie nicht in den Kindergarten ging, mehr Familienzeit zuließ. So hat sie ihrer Familie geholfen, mehr Freude und Spaß in dieser schweren Zeit zu haben. Michal ist davon überzeugt, dass sie gut für ihre Eltern gesorgt hat, indem sie mit ihnen rausgegangen ist und so die Stimmung zu Hause besser wurde. Es ist plausibel, dass Michals Verhalten ihren Eltern die Aufrechterhaltung einer gewissen Normalität während der Quarantäne ermöglichte, denn in Israel durften Erwachsene ihre Wohnung nur mit kleinen Kindern und Hunden weiter als 100 m verlassen.
Auch Amitai (4.2) beschreibt, was er für seine Familie getan hat: »Ich habe dafür gesorgt, dass die ganze Familie Karten und andere Spiele gespielt hat.« Amitai erzählte, wie er seine Eltern dazu gebracht hat, mit der Familie am Tisch zu sitzen und Karten zu spielen. Das Zusammensein ist für Amitai ganz besonders wichtig, da seine Mutter als Juristin im israelischen Gesundheitsministerium arbeitet und während der Quarantäne eigentlich rund um die Uhr im Einsatz war. Ohne Amitai hätten seine Eltern in dieser Situation keine Zeit mit der Familie gefunden, die auch für ihre eigene Balance sehr wichtig ist. Amitai interpretiert das Kartenspielen als Chance für die Familie, eine gute Zeit miteinander zu haben, trotz der widrigen Umstände.
Michal und Amitai haben dargestellt, was sie unternommen haben, um ihrer Familie die Krisensituation zu erleichtern. Es ist ganz offensichtlich, dass die Kinder die Kompetenz haben, zu erkennen, was gut für die Familie ist und wissen, wie sie das in die Tat umgesetzen können. Das heißt, die Kinder sind aktiv an der Qualität der familiären Situation beteiligt und sie übernehmen dazu die Initiative.
Perah Midbar Alter M.A. ist zertifizierter Erzieher der Leiter des multikulturellen Kindergartens an der Hebrew Universität in Jerusalem, wo alle vertretenen Kulturen und Religionen gefeiert werden. Die Hebrew Universität bietet dafür ein besonderes Umfeld, der gesamte Campus ist autofrei und hat einen botanische Garten.
Heidi Keller ist promovierte Kulturpsychologin, hatte einen Lehrstuhl für Kultur und Entwicklung in Osnabrück und ist Direktorin von Nevet an der Hebrew University in Jerusalem. Sie war Forschungsstellenleiterin bei nifbe und bekam viele nationale und internationale Preise und Auszeichnungen für ihre Forschungen, zuletzt 2020 den Outstanding Contribution to Cultural Psychology Award der Cultural Psychology Preconference der Society for Personality and Social Psychology.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2020 lesen.