Erkennen, verstehen und interpretieren
Können wir unseren Augen trauen? Können wir stets sicher sein, dass das, was wir zu sehen meinen, auch das ist, wofür wir es halten? Welchen Eindruck macht ein bestimmter Gegenstand auf uns, und wodurch wird seine Wahrnehmung beeinflusst? Warum wird dieselbe Sache von verschiedenen Menschen unterschiedlich gesehen?
Das Sehvermögen, so meint der Physiker Zajonc, sei auf eine Art »inneres Licht« angewiesen, »welches das vertraute Außenlicht ergänzt und die rohen Sinnesdaten in bedeutungsvolle Wahrnehmung verwandelt.«1 Diese Vorstellung ist nicht neu. Schon früheren Kulturen wie den alten ÄgypterInnen war eine solche Verbindung zwischen äußeren Phänomenen und menschlichem Bewusstsein wohlvertraut, und auch in unserem Alltag stoßen wir immer wieder auf Situationen, in denen uns mitunter schlagartig bewusst wird, wie trügerisch unser Sehsinn sein kann, und wie sehr er von zahlreichen anderen Faktoren beeinflusst wird. Auch für die Arbeit mit Kindern steckt in dieser Thematik ein Potenzial spannender und nicht selten amüsanter Fragestellungen.
Sehen braucht Verstehen
Unser Sehsinn weist viele, nicht selten irritierende und immer auch individuell unterschiedliche Besonderheiten auf. Damit ist nicht die rein optische bzw. physikalische Perspektive gemeint, wie etwa jeder Mensch stets seinen eigenen Regenbogen sieht, auch wenn die jeweiligen Beobachter nebeneinander stehen.2 Diesmal soll von anderen Unterschieden in der visuellen Wahrnehmung die Rede sein – Unterschiede, die vor allem auf individuelle Vorerfahrungen und Kenntnisse, persönliche Einstellungen und Bewertungen zurückgehen. Der Zusammenhang mit Fragen der Form-, Struktur- und Farbwahrnehmung, wie sie von der Gestaltpsychologie erforscht werden, ist eng und oft fließend: Auch bei vergleichsweise einfachen gestaltpsychologischen Experimenten mit unserem Sehsinn spielen Persönlichkeitsmerkmale eine große Rolle. Sehen ist weit mehr als eine rein optische Angelegenheit, es geht dabei wesentlich auch um Denken und Empfinden, Interpretieren und Bewerten. Fast könnte man sagen: Wir sehen nur, was für uns gerade relevant ist.
Im Folgenden wollen wir uns mit einigen Phänomenen beschäftigen, die in eher spielerischer Weise um diese Thematik kreisen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die dahinter liegenden Prozesse teilweise äußerst komplex und anspruchsvoll sind und nicht umsonst nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Debatte und Untersuchungen sind.
Vorstellung oder (Selbst-)Täuschung?
Abgesehen von der Frage nach der Verlässlichkeit unseres eigenen Sehsinns legt die Arbeit mit Kindern nahe, sich auch danach zu fragen, wie diese ihre Umwelt sehen und worin sich der Blick eines Kindes auf seine Umwelt von unserer Wahrnehmung unterscheidet. Ohne hier ausgearbeitete Theorien über den Sehsinn bemühen zu wollen, könnte man für unsere Zwecke fürs Erste vier Aspekte unterscheiden:
- Die kindliche (visuelle) Wahrnehmung der Umwelt hängt stark von Zugangsmöglichkeiten und räumlichen Perspektiven ab, die nicht zuletzt vor allem von uns Erwachsenen bestimmt werden. Auch ist etwa ein Kind dem Boden näher und sieht sehr vieles eher von unten. Aber wie oft ist uns das wirklich bewusst?
- Die Wahrnehmung von Zeichen und Mustern, Bildinhalten, Gegenständen und Lebewesen ist nicht nur untrennbar von Interpretationen und Bewertungen bestimmt, sondern entscheidend ist dabei auch, dass diese Interpretationen und Bewertungen wiederum abhängig sind von Lebensalter, Vorerfahrungen und Kenntnissen. Das zeigt sich überall im Alltag, beim gemeinsamen Anschauen eines Bilderbuchs bis hin zu durchaus denkwürdigen Situationen, wenn etwa eine Erzieherin wegen einiger Gesichtsfalten von einem Kind mitfühlend gefragt wird: »Musst du bald sterben?« Oder am Beispiel einer (äußerst präzisen) schulischen Aufgabenstellung, einen traditionell geschmückten Schneemann zu zeichnen – mit dem sicherlich unerwarteten Ergebnis einer entsprechenden Stückliste ...
- Optische Täuschungen – ob bewusst konstruiert oder zufällig auftretend – können hingegen Kinder wie Erwachsene »hinters Licht« führen. Weil die entsprechenden Illusionen unmittelbar mit der Verarbeitung von Sinneseindrücken in unserem Gehirn zu tun haben, bleiben sie häufig auch dann erhalten, wenn man bereits weiß, dass es sich um eine Täuschung handeln muss. Das ist gerade für Kinder immer wieder spannend und rätselhaft.
- Eine Kategorie für sich ist der Umgang mit (Alltags-)Dingen und deren Interpretation und Zweckbestimmung. Wie wir immer wieder beobachten können, sind Kinder sehr erfinderisch, wenn es darum geht, einem bestimmten Gegenstand eine andere als die uns geläufige Bedeutung zu geben und ihn – zumindest in unseren Augen – völlig zweckentfremden. Dabei geht es um mehr als »nur« ein Spiel: Es geht um ein tiefes Eindringen in den Charakter eines Gegenstandes, seine unterschiedlichen Wahrnehmbarkeiten und Nutzungsmöglichkeiten. Fehlende Lebenserfahrung und damit ein noch nicht vorhandenes Festgelegt-Sein auf eine bestimmte Sichtweise sind dabei sehr hilfreich ...3
Herbert Österreicher ist Diplom-Ingenieur und Magister Artium. Er plant und gestaltet Außenanlagen und Gärten von Kindereinrichtungen. Darüber hinaus führt er Seminare und Exkursionen zu verschiedenen Bereichen der Umweltbildung durch und ist als Autor für Fachzeitschriften und Verlage tätig. Weitere Informationen finden Sie unter:
Kontakt
www.kinderfreiland.de
1 Vgl. Zajonc, Arthur (1994). Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (orig. Catching the Light: The Entwined History of Light and Mind, 1993. Deutsch von Hainer Kober)
2 Vgl. Betrifft KINDER 03-04/20, Der Regenbogen
3 In der Kunstgeschichte steht mindestens seit den Werken von Marcel Duchamp (1887-1968) der Begriff »Ready-made« für eine derartige Neudefinition bekannter und oftmals allzu vertrauter Gegenstände.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2020 lesen.