Eine kritische Reflexion
Mit dem Zitat »Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist« (Wilhelm von Humboldt) stellt das gleichnamige Bundesprogramm sprachliche Bildung in den Mittelpunkt der frühkindlichen Pädagogik. Welche Räume werden geöffnet, wenn sprachliche Bildung der Schlüssel zur Welt ist – und welche werden vielleicht übersehen oder verschlossen? Diese Frage gewann für Katharina Witzke in vier Jahren der Fachberatung im Bundesprogramm zunehmend an Bedeutung. Sie plädiert dafür, Räume für freies Spiel bewusst vorzubereiten und offen zu halten.
Beim Frühstück schaut die Pädagogin Bela an: »Bela, du siehst heute Morgen so traurig aus.« Bela schaut auf und sagt: »Unser Hund mag gar nicht aufstehen und fressen.« »Du sorgt dich um euren Hund?« Bela nickt. Ihm kommen die Tränen. Die Pädagogin legt ihm eine Hand auf den Rücken und schaut ihn freundlich und mitfühlend an. Die erwachsene Bezugsperson markiert mit Worten, was das Kind bewegt. So lernt das Kind sich selbst kennen und verstehen. Im Zuge der Bindungsforschung wurde die Bedeutung dieser feinfühligen Beziehung des Kindes zu Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen, wie pädagogischen Fachkräften, erkannt. Auf Dialoghaltung und Feinfühligkeit wird daher in Sprach-Kitas viel Wert gelegt.
Die Kita als neuer Sprachraum
Kommt ein Kind ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen in die Kita, so verstehen sowohl das Kind als auch die Fachkräfte zunächst die Worte des Gegenübers inhaltlich nicht. Der Sprachbildungsprozess verläuft etwas anders und scheint zuerst erschwert. Beim Frühstück sitzt Ela lange am Tisch, viele Kinder sind schon aufgestanden. Der Erzieher schaut mehrmals zu Ela, sie wirkt still und kaut lange an einem Stück Möhre. Er geht zu ihr, berührt sie mit der Hand an der Schulter, und als sie aufschaut, fragt er: »Hast du keinen Hunger?« Ela sieht in die Brotdose mit weiteren Möhrenstückchen. Der Erzieher deutet an, dass er die Brotdose zuklappt, und lächelt Ela an. »Wenn du genug hast, kannst du einpacken.« Ela lächelt und macht die Brotdose zu.
Die Erfahrung zeigt, dass Dialog und Sprachbildung – zunächst mit wenigen, einfachen Worten – auch ohne Deutschkenntnisse beginnen kann. Kinder erwerben die Zweit- oder Drittsprache ohne viel Mühe, wenn sie in zugewandter Umgebung interessante Anregungen erhalten. Vertraute Bezugspersonen, vertraute Räumlichkeiten, vertraute tägliche Abläufe und ein feinfühliger Dialog mit den Bezugspersonen sind Voraussetzungen, damit jedes Kind sich in der Kita wohlund willkommen fühlen kann. Sie bieten den sicheren Rahmen, der es dem Kind ermöglicht zu spielen.
Der Spielraum des Kindes
Mithilfe ihrer Sprache bilden Menschen sich ihr persönliches Weltwissen. Kinder tun das anders als Erwachsene. Im
Spiel erschließen sie sich handelnd die Welt, treten mit Menschen in Kontakt und eignen sich Wissen an. Nachdem Ela ihren Rucksack aufgehängt hat, geht sie zur Kinderküche. Sie holt Schalen und Töpfe aus dem Schrank und beginnt, den größten Topf mit Kastanien zu füllen. Sie rührt mit einem Holzlöffel und schaltet den Kinderherd an. Dann verteilt sie die Kastanien in kleine Schalen. Es bleiben allerdings viele im Topf, also nimmt sie die kleineren Töpfe als weitere Gefäße dazu und füllt sie. Als alle Kastanien verteilt sind, kippt sie sie zurück in den Topf und beginnt erneut.
Im Gegensatz zur Arbeit ist das Spiel nicht auf einen bewussten Nutzen in der Zukunft gerichtet. Es trägt seinen Sinn im Hier und Jetzt und in sich selbst. Das Spiel bewirkt, dass sich ein Mensch auf Neues einstellt, ohne dass die Realität das verlangt. Ein Kind – wie hier Ela – erforscht in seinem Handeln, in vielen Wiederholungen und Variationen feine
Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Das Kind folgt unbewussten, nicht versprachlichten Fragestellungen, es erkundet die Welt und seine Wirkung auf sie.
Dafür ist es wichtig, dass seine Umgebung in angemessener Weise von ihm verändert werden kann. In dieser Umgebung findet es Antworten, die ihm entsprechen. Das Spiel muss nicht zu Ende sein, wenn ein Zielzustand erreicht ist. Das frei spielende Kind hält eine passende innere Spannung aufrecht, ohne sich zu über- oder zu unterfordern.
Das Potenzial, frei zu spielen, bringt jedes Kind mit auf die Welt. Die Rahmung und somit Entfaltung des freien Spiels benötigt jedoch Zurückhaltung statt Dialoghaltung von den erwachsenen Bezugspersonen. Die aktuelle Priorisierung
der Sprachbildung verbindet sich nicht immer intuitiv mit der Entfaltung des kindlichen Potenzials im freien Spiel.
Sprachbildung und freies Spiel können auch in Konkurrenz zueinander treten, wie das Beispiel der still spielenden Ela zeigt: Der in Dialoghaltung und alltagsintegrierter Sprachbildung geschulte Erzieher und seine Kollegin aus der Sprach-Kita beobachten, dass Ela mehr als eine Stunde so in der Küche für sich spielt.
Sie fragen sich:
- Was bedeutet hier unser Sprachbildungsauftrag?
- Nutzen wir die Situation als Sprachanlass?
- Wie können wir bewirken, dass Ela am Spiel der anderen Kinder teilhat?
Möglicherweise haben die beiden Kolleg:innen hier unterschiedliche Vorstellungen, weil der eine den Eindruck hat, Ela spielt angeregt, und die andere findet, dass die Sprachbildung zu kurz kommt. Wie lassen sich Bildungsangebote und selbstbestimmtes Spiel im Kita-Alltag verbinden?
Katharina Witzke ist Diplom-Pädagogin und freiberuflich als Heilpädagogin und Supervisorin (DGSv) tätig. Von 2017 bis Ende 2021 war sie Fachberaterin im Bundesprogramm »Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist«.
Kontakt
www.fenster-öffnen.de
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2022 lesen.