Selbstverständlich drinnen und draußen
Ein Jahr lang sammelte die Atelierista Verena Görgen Erfahrungen in einer Reggio-Einrichtung in Schweden. Beeindruckt hat sie, wie präsent Kinder im Stadtbild sind und dass zwischen drinnen und draußen unentwegt Spiel-Räume entstehen. In den Kitas erlebte sie, wie sich die Räume ablösen, miteinander verbinden, ineinander übergehen und der digitale Spielraum selbstverständlich einbezogen ist.
Schweden ist bekannt für seine beeindruckende Natur, die dunklen Winter und die hellen Sommer, das viele Wasser und die Weite. Mit knapp 450.000 km2 ist es flächenmäßig größer als Deutschland, hat aber nur etwas mehr als zehn Millionen Einwohner:innen. Bekannt ist Schweden auch für die hohe Qualität des frühkindlichen Bildungssystems. Mit seiner geschlechtersensiblen und familienfreundlichen Sozialpolitik gilt es europaweit als Vorreiter in bildungsrelevanten Bereichen wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Partizipation und Demokratisierung, und das, obwohl oder vielleicht gerade weil der landesweite Lehrplan lediglich 20 Seiten umfasst. Das PDF der englischen Version »Curriculum for the Preschool« findet man unter Eingabe der Stichworte »LPFÖ 18« in die Suchfunktion von www.skolverket.se, der Website der schwedischen Schulbehörde. Beinahe jede Fachliteratur im frühkindlichen Bildungsbereich positioniert sich zu den darin kompakt auf den Punkt gebrachten wichtigsten Aspekten für die frühkindliche Erziehung. Eine Erzieherin sagte einmal zu mir, dass das ausreiche, weil schwedische Erzieher:innen den Lehrplan »unter der Haut tragen«, womit sie deutlich machen wollte, wie präsent und verinnerlicht dieser ist.
Verantwortung übernehmen
Im schwedischen Lehrplan liegt der Fokus darauf, die Menschen- und Grundrechte sowie demokratische Werte zu vermitteln und die Kinder darauf vorzubereiten, Verantwortung für sich selbst, ihre Mitmenschen und die Umwelt zu übernehmen. Bis zum Schuleintritt sollen sie erfahren haben, dass sie nicht nur Teil dieser Gesellschaft sind, sondern diese aktiv mitgestalten können. Sie tragen schon früh Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung – nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer und ökologischer Hinsicht. Dabei wird Kita als sozialer und kultureller Treffpunkt verstanden, an dem Offenheit und Respekt gelebt wird und die Kinder darin gestärkt werden, Mitgefühl und Rücksichtnahme anderen Menschen gegenüber zu zeigen. Kita als ein Ort, an dem schon die Jüngsten lernen, Verantwortung zu übernehmen, und langfristige und globale Zukunftsperspektiven thematisiert werden, die sich im Kita-Alltag widerspiegeln. Die Entwicklung und das Lernen aller Kinder sollen gefördert und der Grundstein für die Freude am lebenslangen Lernen soll gelegt werden.
Bei meinen Spaziergängen durch Stockholm überraschte es mich immer wieder, wie präsent Kinder im Stadtbild sind. Wie selbstverständlich sie Teil der Gesellschaft sind. Kitagelände sind häufig offen gestaltet, sodass ich bei meinen alltäglichen Runden einen Blick auf die spielenden Kinder werfen konnte. Im Unterschied zu Deutschland handelt es sich in der Regel um transparente Zäune, die nicht höher als 1,20 m sind. Theoretisch leicht zu überklettern, und nicht selten steht direkt eine Bank daneben, die dies sogar erleichtern würde. Dieses Bild hat sichmir eingeprägt. Es steht für Transparenz und Offenheit und den Appell an die Eigenverantwortung. Bildung und Erziehung ist in Schweden nichts, was hinter verschlossenen Türen stattfindet und nur Eltern und Pädagog:innen betrifft, sondern das alle angeht. Deshalb ist es auch ein großes Anliegen, Erziehung sichtbar zu machen. So finden Ausstellungen, die die pädagogische Arbeit in den Kitas zeigen, nicht nur in den Foyers der Kitas statt, sondern – als Ausdruck für die Wertschätzung, die den Erziehenden seitens der Politik entgegengebracht wird – auch in den Rathäusern der Kommunen. Dabei geht es weniger darum, Ergebnisse zu präsentieren und eine »schöne« Ausstellung zu haben, sondern tatsächlich darum, Prozesse deutlich zu machen und auch selbst ins Handeln zu kommen, Impulse direkt auszuprobieren und für einen Moment wieder Kind zu sein.
Verena Görgen ist Frühförderpädagogin, Atelierista, Dozentin, ausgebildete Fotografin und Yogalehrerin. Mit den Schwerpunkten ästhetische Bildung und Reggio-Pädagogik arbeitet sie im Atelier artig in Köln.
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Diesen Beitrag können Sie vollständig neben weiteren interessanten Beiträgen in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2023 lesen.