Mattia Pratissoli denkt über Bildung in der Grundschule nach. Auf dem Hintergrund seiner italienischen Erfahrungen fordert er den Anschluss an vorschulische Bildungsangebote.
In Italien gibt es eine vielschichtige Debatte über Bildung. Zu den Themen, die häufig von Grundschullehrerinnen und -lehrern angesprochen werden, gehören die Schwierigkeiten, zunehmend heterogene Klassen zu unterrichten und dafür effektive, motivierende Lernformen zu entwickeln sowie im Alltagsgeschäft auch Zeit für professionelle Entwicklung und Auswertung zu finden. Diese Themen kreisen schon länger und weithin im Luftraum der italienischen Bildungsdebatte, doch die Grundschulen scheinen, abgesehen von echten Ausnahmen, in festen Bahnen zu stecken und nur schwierig ausweichen zu können.
Die Kritik am Bildungswesen richtet sich vor allem auf die Brüche, die Diskontinuität in den Bildungserfahrungen der Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Stufen. Kontakte etwa zwischen den Lehrkräften der Grundschule mit den künftigen Schulanfängern werden nur rasch durchgezogen. Trotzdem denke ich, dass Kontinuität grundsätzlich erreichbar ist und Lehrkräfte, Eltern und Schüler einbezogen werden können. Das Zusammentreffen unterschiedlicher pädagogischer Ansichten kann zu neuen Ideen führen, die einerseits zu neuen Handlungsansätzen und andererseits zu einem kritischeren Blick auf die eigene Praxis führen. Vergleiche und ge-meinsame Erfahrungen werden zu Handwerkszeugen entwickelt, gleichwertig mit dem Lehrplan, denn auf den dafür anberaumten Treffen entwickelt jede Lehrkraft ein umfassenderes Verständnis des eigenen Handelns und seiner Lerneffekte. Vergleich und gemeinsame Erfahrung können sogar als die eigentlichen Antreiber der Selbstreflexion von Arbeitsgruppen und der Planung von Lernangeboten betrachtet werden.
Genau damit haben wir vor einigen Jahren in der Provinz Bassa Reggiana begonnen. Eine ständig wachsende Gruppe von Lehrkräften beschloss, Prozesse der Reflexion und des Ausprobierens zu beginnen. Für diese Grundschullehrerinnen und -lehrer bot das Vorhaben eine echte Chance zu praktischer Veränderung und effektiven Lösungen im Alltag.
Besonders die Einbeziehung eines außenstehenden pädagogischen Beraters und die Umgestaltung der Lernumgebung (Zeiten, Räume, Lehrmaterial) können als die entscheidenden ersten Schritte der Praxisveränderung angesehen werden. Mit mir als pädagogischem Berater war es unvermeidlich, dass die Arbeitsgruppe mit Ideen bekannt gemacht wurde, die an die Krippen- und Vorschulpraxis aus der Umgebung von Reggio anknüpfte und somit an Bildungskonzepte, die nicht ausschließlich der Schule vorbehalten waren, sondern einen viel weiteren Fokus besaßen.
Allein die Einführung eines Beraters verstärkte an den Grundschulen vermutlich Spannungen, die jede Veränderung mit sich bringt. Hier ging es speziell um eine pädagogische Praxis, die auf Beobachtung und Diskussion aufbaut. Die Erfahrungen aus dem Umgang mit Kindern wurden in Kleingruppen ausgewertet und dort besser verstanden, was zu mehr Professionalität, Wissen und Planungskompetenz führte. So kam es, dass praktische Erfahrungen die Tür zu besserem Verständnis öffneten.
Einerseits also hängt das Projekt an der Beobachtung vor Ort. Andererseits jedoch gibt es eine enge Verbindung zu den Krippen und Kitas und ihrem pädagogischen Ansatz, der in der Kommune von Reggio/ Emilia seit den 1970ern unter Leitung von Loris Malaguzzi entwickelt wurde.
Genau der engen Verbindung zur Krippen- und Vorschulpraxis wegen konnte das Denk-Schule-Projekt an der Entwicklung von Kontinuität zwischen verschiedenen pädagogischen Ebenen anknüpfen, die weit über das bloße Aufeinandertreffen zwischen Lehrkräften und ihren künftigen Schülern hinausgeht und vielmehr einen kontinuierlichen Kontakt herstellt, mit gemeinsamen Überlegungen über den Auftrag der Schule, die Rolle der Kinder, die Qualität des Lehrplans und den Unterricht.
Aus der Erkenntnis, wie wichtig die Umgebung für das Lernen ist, entsprang eine Entscheidung über die Neuordnung der Klassen: Lernbereiche wurden geschaffen und der Unterrichtstag wurde im Sinne eines unmittelbar sichtbaren Ausdrucks des Geistes, der hinter dem Curriculum steht, gestaltet. Auf diese Weise können Eltern und Schülerinnen und Schüler erkennen, dass die Lernumgebung nicht irgendwie einer ästhetischen Idee folgt, sondern einem präzisen pädagogischen Zweck dient.
Mattia Pratissoli ist der verantwortliche Pädagoge im Denk-Schule-Projekt. Er bietet Training und pädagogische Beratung an. Außerdem arbeitet er mit der Ambra Totem Cooperative und mit der Gruppe um das Atelier Raggio di Luce zusammen.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Kinder in Europa 22/12 lesen.
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