Im Sinne meines Freiheitsverständnisses bedeutet »Autonomie« ein Maximum an Freiheit der Lebensgestaltung auch für Kinder. Grenzen dieser Freiheit sind die Rechte der anderen Kinder. Die Grenzen werden jedoch nicht gesetzt durch die Erziehungstheorien oder gar die Wünschen der Lehrer.
In den Werkstatträumen haben Kinder die Freiheit zu entscheiden wo, mit wem und wie lange sie forschen, untersuchen und experimentieren wollen. Die Pädagogen (hiermit sind Lehrer/innen, Sozialpädagogen/innen und Erzieher/innen gemeint), sind die Weggefährten des individuellen Lernens der einzelnen Kinder. Sie leben in Beziehung zu den Werkstatträumen, zu den Materialien und zu den Kindern ohne ihre persönlichen Erziehungsinteressen der Freiheit der Kinder entgegenzusetzen.
Die Idee des eigenaktiven Lernens ist nicht neu. Viele Reformpädagogen haben ähnliche pädagogische Modelle, in der Regel für Schulen, Universitäten und Fortbildungsinstitute für Lehrer entwickelt (zum Beispiel: J. Dewey; P. Freire; J. Pestalozzi; C. Freinet; M. Montessori und E. Key).
Warum hat sich das selbstbestimmte Lernen von Kindern in den Bildungseinrichtungen trotzdem nicht durchgesetzt? Woran liegt es, dass in unserem Schulsystem weitestgehend immer noch frontal unterrichtet wird und der Lehrplan – von den Lehrern umgesetzt – entscheidet, was und wann ein Kind zu lernen hat?
Liegt es an den Kindern?
Nach richtigem Selbstverständnis der Pädagogen kann es nicht an den Kindern liegen.
Unbestritten ist nämlich, dass Kinder »geborene Lerner« sind, die die Kraft und den Willen haben, ihre Entwicklung eigenständig und individuell voranzubringen. Alle Bildungs- und Erziehungspläne in den 16 deutschen Bundesländern gehen von dieser Grundannahme aus.
In der Reggio-Pädagogik wird das Kind folgerichtig als »kompetentes Wesen« angesehen, da es sowohl die Kunst des Forschen als auch »hundert Sprachen« besitzt und es Konstrukteur seines eigenen Wissens ist.
Liegt es an der Ausstattung der Kitas und Schulen?
Schulen und Kitas verfügen in der Regel über vielfältige Materialien, die meistens jedoch in Schränken eingeschlossen sind. Sie stehen den Kindern zum eigenen Forschen nicht unmittelbar zur Verfügung, sondern werden vom Lehrer für eine Unterrichtseinheit in das Klassenzimmer geholt.
Woran liegt es nun, dass erwachsene Menschen den Kindern nicht zutrauen, dass sie autonom ihre eigene Entwicklung voranbringen?
Der bedeutende dänische Autor Jesper Juul beschreibt in seinem Buch »Vom Gehorsam zur Verantwortung – eine neue Erziehungskultur«, wie der Gesellschaftswandel von der autokratischen zur demokratischen Gesellschaft die Erwachsenen-Kind-Beziehungen und die Bedeutung der Familie verändert und dadurch auch die Erzieher verunsichert hat. Die Lebenserfahrungen vieler Pädagogen aus der Kindheit waren autokratisch. Der Unterricht in den Schulen war fremdbestimmt und sie lernten die vom Lehrer gewünschten Antworten zu geben.
Die Unsicherheit der Pädagogen, was nun eine Werkstatt sein soll, wie die Kinder dort tätig sind oder sein dürfen und was der pädagogische Auftrag der Pädagoginnen sein könnte, wo die Freiheit auf Grenzen stößt, ist sehr groß.
Es hat aber auch wieder mutige Pädagogen gegeben, die die pädagogische Wende vor mehr als dreißig Jahren in Europa aufleben ließen.
Die Einzigartigkeit eines jeden Kindes wurde und wird wieder in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit gestellt und die Pädagogen hatten und haben den Anspruch, diese Wende besonders konsequent umzusetzen.
Die dadurch entstandenen erheblichen Auswirkungen auf die Kooperation im Team einer Kita oder Schule und auf die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern sind heute noch in Deutschland das zentrale Thema. Dabei spielt der Freiheitsbegriff als entscheidendes Gestaltungselement eine bedeutsame Rolle.
Ich möchte nun über das Gelingen von Werkstatt-Kitas und Schulen berichten. Kinder lernen selbstbestimmt, wenn sie für ihre Entwicklungsbedürfnisse eine Resonanz in ihrer Umgebung finden. Für ihre autonome Aktivität tut ihnen eine geordnete, entspannte und freie Atmosphäre gut. Sie brauchen Freunde und genügend Zeit um ihre Ideen umzusetzen. Motivierte Pädagogen, die mit Lust, Freude, Mut und Energie bei der Arbeit sind, tun ihnen gut.
Kinder lieben es, Spaß zu haben. Das entdeckende Lernen bringt ihnen Spaß! Eine kleine Geschichte von Jonne, vier Jahre alt, der eine Werkstatt-Kita besucht: Jonne kommt morgens aufgeregt in die Bauwerkstatt und sagt zur Pädagogin: »Monika, ich will eine Brücke für meine Autos zu Hause bauen. Ich brauche dafür ganz viel ›großes Holz‹!«
Beide gehen in den Holzschuppen und Jonne sucht sich »sein« Holz aus. Er geht an die Werkbank und beginnt zu hantieren. Sein Freund kommt hinzu, beobachtet ihn und ist interessiert an Jonnes Vorhaben. Sie bauen mit den Holzstücken und probieren aus. Dabei entsteht ein Spiel mit dem Zollstock. Wände und Türen der Werkstatt werden ausgemessen. Pausen von seinem Bauvorhaben gehören dazu.
Die Pädagogin ist den beiden freundlich zugewandt und hört aufmerksam zu. Sie ist da, wenn Jonne ihre Unterstützung einfordert. Sie hält den Nagel fest, damit er nicht wieder schief in das Holz geschlagen wird und lässt Jonne in Ruhe, wenn seine Körpersprache ihr signalisiert, dass er nicht gestört werden möchte. Der Pädagogin fällt es manchmal schwer, sich nicht einzumischen. Jonne spürt es, arbeitet aber entspannt weiter, da er ihr vertrauen kann, dass sie nicht eingreift. Jonne baut vier Tage lang an der Brücke. Er ist stolz auf seine Brücke und nimmt sie mit nach Hause. In den nächsten Tagen möchte auch sein Freund eine eigene Brücke bauen...
Von dem italienischen Pädagogen Loris Malaguzzi stammt die Aufforderung, die Quellen der Kinder zu erkennen. Er definierte die Aufgabe der Pädagogin als ein Versuch, vorauszusehen, was das Kind tun möchte. Die Rolle des Erwachsenen sei es, dem Kind Gehör zu geben, auf seine Spontanität einzugehen und den Rahmen für seine Entdeckungen zu schaffen. Erwachsene und Kinder müssten sich gegenseitig in Neugier versetzen können. (Malaguzzi, 1991)
Marion Tielemann
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa 28/15 lesen.