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Geschichten von Vielfalt, Zugehörigkeit und Identität
In der AWO-Kita Sonnenschein sprechen nicht nur viele Kinder, sondern auch viele Fachkräfte mindestens zwei Sprachen. Unsere Redakteurin Jutta Gruber wurde neugierig. Sie besuchte die Einrichtung im Berliner Bezirk Kreuzberg und erlebte, wie bedeutsam es für alle Beteiligten ist, Namen korrekt auszusprechen, und dass die Arbeit im offenen Konzept auch für den Spracherwerb von Kindern eine gute Sache sein kann.
»Hallo, hallo«, begrüßen mich die Kinder der Kita Sonnenschein. Im Leseraum kommt es zu ersten Dialogen. Hier treffe ich Khaled und Clelia. Khaled schaut sich das Kinderbuch »Mama Muh schaukelt« an. Nachdem wir uns einander vorgestellt haben, frage ich ihn, ob er mir etwas über das Buch erzählen mag. »Ja«, antwortet er und fasst den Inhalt für mich zusammen: »Kühe können nicht schaukeln. Nur in der Geschichte.« Meine Antwort gleicht einer Wiederholung »Ja, in der Geschichte können Kühe schaukeln.« Dann spreche ich Clelia auf ihr Buch an: »Und das ist dein Lieblingsbuch?« »Ja.« »Was magst du daran?« »Die Seiten sind so schön«, antwortet sie und streicht mit der rechten Hand über die aufgeschlagene Seite. »Eigentlich ist das Buch für Babys.« »Und du magst es trotzdem gern?« »Ja. Vielleicht sollen die Babys damit Wörter lernen.« »Kannst du die Wörter schon?«, frage ich weiter. »Ja.« Sie zeigt auf eine dort abgebildete Wolke und sagt »Wolke«. Unter der Wolke steht jedoch »Bulut«. Ich lese das Wort vor und frage: »Ist das vielleicht türkisch?« Clelia fragt zurück: »Hä?«
Viele Sprachen
Dass es im Leseraum Bücher unterschiedlicher Sprachen gibt, verwundert nicht, denn in der Kita Sonnenschein werden viele Sprachen gesprochen. Die dritte Etage, auf der ich zu Gast sein darf, ist zudem die wahrscheinlich diverseste der insgesamt vier, auf jeweils einer Etage untergebrachten Gruppen. Hier haben nicht nur viele Kinder, sondern auch viele Fachkräfte eine Migrationsgeschichte. Ranjeet Singh z.B spricht Hindi, Englisch, ein bisschen Französisch und natürlich Deutsch. Fast wäre er in Kanada zur Welt gekommen, wo sich seine aus Indien stammenden Eltern kennengelernt hatten. Kurz vor seiner Geburt zogen sie jedoch nach Berlin. Umut Teke ist mit der türkischen Sprache aufgewachsen und Katarzyna Romalska-Dömeland mit der polnischen. Sie kam einst von Warschau nach Berlin und spricht auch Englisch, Griechisch und Russisch, was sie gerade jetzt mit den Kindern aus der Ukraine gut nutzen kann, während Sven Giese aus dem ehemaligen Ost-Berlin von allen am besten berlinern kann. Zusammen mit ihren beiden weiteren Kolleginnen sprechen sie wahrscheinlich etwa genauso viele Sprachen wie die von ihnen betreuten Kinder.
Kontakt
Halil und sein Bruder Hamza gesellen sich zu uns in den Leseraum: angelockt vielleicht von meiner einerseits fremden, andererseits aber auch ein ihnen vertrautes Wort aussprechenden Stimme. Denn das Wort »Bulut« ist tatsächlich türkisch und Halil und Hamza vertrauter als manch anderes deutsche Wort. Die Brüder sind erst vor drei Wochen aus der Türkei nach Berlin gekommen und kennen noch nicht viele deutsche Wörter. Halil und ich halten Blickkontakt. Ich deute mit meiner Hand auf mich und sage »Jutta«, dann zeige ich auf ihn. Er sagt etwas, ich bin aber unsicher, ob er tatsächlich ebenfalls seinen Namen sagt oder etwas anderes. Deshalb wiederhole ich den Ablauf. Ich zeige erneut auf mich und sage meinen Namen. Zu meiner Überraschung wiederholt Halil ihn und das sogar auf Anhieb richtig gut. Als ich dann wieder auf ihn zeige und »Halil« sage und nachfrage »Ist das dein Name?«, schaltet sich die dazugekommene Malou in unser Gespräch ein. Sie korrigiert meine Aussprache von »Halil« in »H-ah-lil«, also mit einem langen »a«. Ich wiederhole »Halil« mit langem »a« und Halil nickt. Dann zeigt er mit seinen Händen auf seine Ohren. Wieder rätsele ich, was er mir sagen will. Mich darauf hinzuweisen, dass er mich hört bzw. versteht, wäre im Grunde unnötig. Dafür hatte bereits sein Nicken ausgereicht. Vielleicht also eher, dass er mich nicht so gut versteht? Umut Teke bestätigt genau das in einem Nachgespräch: Halil hört nicht gut. Offensichtlich aber fühlt er sich so weit von mir verstanden, dass er Vertrauen fasst und sich zu uns setzt. Unvermittelt beginnt Hamza, der bereits neben mir sitzt, wie ein Wasserfall zu reden. Ich verstehe nur »Schildkröte« und kann noch nicht einmal unterscheiden, ob es sich dabei um eine mir unbekannte Sprache handelt oder um eine Fantasie- bzw. Geheim- oder Quatschsprache. Ich versuche, das Gehörte nachzusagen, was mir ganz und gar nicht gelingt. Da keins der Kinder lacht, auch Hamza nicht, schließe ich meine Idee mit der Geheimsprache, in die alle und nur ich nicht eingeweiht sind, aus. Mal0u, die auch »Schildkröte« verstanden hat, bestätigt, was ich zwar schon wusste, aber nicht sicher einordnen konnte: »Halil und Hamza sprechen Türkisch.«
Namensrecht
In der Kita Sonnenschein wird morgens jedes Kind mit seinem Namen begrüßt. »Es ist uns wichtig, dass sich die Kinder gesehen und willkommen fühlen«, hatte mir die Fachkraft Katarzyna Romalska-Dömeland im Vorgespräch erzählt und sich daran erinnert, wie furchtbar es sich anfühlt, »immer wieder gefragt zu werden, ob man mich nicht vielleicht Katharina nennen könnte, weil das einfacher auszusprechen sei.« Hier aber seien sie ein multikulturelles Team. »Alle haben besondere Namen und das Recht darauf, mit genau diesem Namen angesprochen zu werden. Deshalb fragen wir jedes neue Kind, wie wir seinen Namen aussprechen sollen. Es ist doch so, dass Kontakt immer mit dem Namen anfängt. Sprechen wir den Namen falsch aus, geben wir dem Kind das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder nicht okay zu sein, sowie Anlass für Zweifel daran, wer man ist. Deshalb versuchen wir alle, unsere Namen auszusprechen, so wie sie sind. Die Kinder können das perfekt.«
Kontakt
Die Kita Sonnenschein im AWO Kreisverband Berlin-Spree-Wuhle e.V. liegt im Berliner Bezirk Kreuzberg. Nach dem Motto »der Weg ist das Ziel« begleiten unter der Leitung von Melek Başoğlu 28 Fachkräfte auf insgesamt vier Etagen bis zu 150 Kinder u.a. aus Polen, Litauen, Spanien, Israel, Italien, der Ukraine, der Türkei, Japan, Russland und Frankreich im offenen Konzept nach dem Situationsansatz.
Email www.awo-spree-wuhle.de/sonnenschein



