Impulse für mehr riskantes Spiel
Kinder wild und ausgelassen spielen zu sehen, weckt regelmäßig die Frage, was und wie viel kann ich erlauben, und wann muss ich eine Grenze setzen? Während ihrer Aufenthalte in norwegischen Kindertageseinrichtungen im Rahmen des Bildungsprogramms Erasmus+ beobachtete die Sozialpädagogin Annette Kessler, dass die Frage nach der Begrenzung des kindlichen Entwicklungsrahmens nicht nur eine persönliche, sondern auch eine kulturell geprägte ist. Sie ist überzeugt davon, dass Menschen, die über den Tellerrand schauen, eine Menge voneinander lernen können.
Der fünfjährige Jan steht hoch oben in der Klettertanne. Auf die Frage, ob das so erlaubt sei, bekommt die Erasmus-Austauschschülerin Ina aus Deutschland von der norwegischen Erzieherin zur Antwort: »Ja, wenn er allein hochklettern kann, dann ist das okay so. Nur hoch zum Ast heben wir die Kinder, die klettern wollen, nicht.« Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Unruhe steigt in ihr auf. Sie atmet tief ein und aus und erwidert: »Puh …, kann ich ihm aber sagen, dass er sehr vorsichtig sein soll?« »Nein«, antwortet die Fachkraft gleichermaßen kurz wie eindeutig und erklärt, dass eine solche Intervention Jans Aufmerksamkeit weg vom Klettern hin zu Ina lenken würde und es gerade in solchen Momenten besonders häufig zu kleinen Verletzungen kommen kann. In Deutschland ist Ina meine Schülerin. Was in diesem Moment in ihr vor sich geht, habe ich so und so ähnlich bereits einige Male erlebt, wenn ich meine Schüler:innen während ihres Aufenthaltes in einer norwegischen Kita besuche.
Klettern lassen
Als wir am Abend gemeinsam unsere Erfahrungen und Beobachtungen des Tages reflektieren, vertraut Ina mir und ihren fünf Austauschkolleg:innen an, das die Erfahrung von heute in ihr nachgewirkt hat. Die Einsicht, dass gutgemeintes Eingreifen nicht immer das Beste für die Kinder ist, wolle sie auf jeden Fall in ihre pädagogische Praxis nach Deutschland mitnehmen. Auch wenn sie noch nicht wisse, was die Kolleg:innen oder gar die Eltern in ihrer Einrichtung davon halten werden. Im Austausch mit meinen norwegischen Kolleg:innen bekomme ich nicht selten die Rückmeldung, dass sowohl angehende als auch erfahrene sozialpädagogische Fachkräfte aus Deutschland öfter als ihre norwegischen Kolleg:innen bereits kleinere Hautabschürfungen, Schnittwunden oder Verstauchungen der Kinder insbesondere wegen der nachfolgenden Rückmeldungen der Eltern fürchten. Ich weiß aus eigener Erfahrung als Erzieherin und vielen Hospitationen, dass in deutschen Einrichtungen Erfahrungsbereiche wie Spiel in großer Höhe, mit viel Tempo, mit gefährlichen Gegenständen, in der Nähe gefährlicher Elemente, mit Kämpfen oder in nicht einsehbaren Räumen tendenziell unterbunden und schon gar nicht gefördert werden. Dabei sind Kinder auf Aktivitäten, in denen sie sich ausprobieren können, angewiesen, um ihr Kontrollvermögen zu schulen, Furcht vor angemessenen Risiken zu überwinden und sich für Unbekanntes öffnen zu lernen. Sie brauchen und suchen Herausforderungen, möchten kämpfen, mit Stöckern spielen, Buden bauen, am Bach spielen, schnitzen, rutschen, mit Feuer umgehen und über Eis schlittern, und genau deshalb schicke ich unsere Auszubildenden gern nach Norwegen.
Leben im Freien
Dort wird im Winter auf Schlitterbahnen im Kindergartenhof bei Minustemperaturen noch extra Wasser gegossen, um das Rutschen auf Eisflächen zu ermöglichen. Auf Ausflügen sieht man die Kinder steile Wiesenabhänge hinabrollen, um zu sehen, wer am weitesten kommt, oder im Außenbereich, wie sie mehrere Fahrzeuge zu einem Konvoi verbinden, um dann zu mehreren pro Fahrzeug deren Straßenlage auf abschüssigem Gelände zu testen. Mir scheint, dass Norweger:innen insgesamt nicht einfach wagemutiger, sondern auch erfahrener im Umgang mit den Herausforderungen der Natur sind. Wenn man mit einem Norweger oder einer Norwegerin ins Gespräch kommt, interessiert nicht, was man beruflich macht, sondern, was für eine Aktion man am vergangenen Wochenende – in der freien Natur – gemacht hat. Ob man mit dem Boot draußen oder Skifahren war oder auf einem Berg gewandert ist. Sich im Freien aufzuhalten und das Abenteuer in der Natur zu suchen, gehört zu ihrem Lebensstil, und das zeigt sich am Ende auch in der Haltung zum Kind. In Deutschland lassen wir die Kinder lieber drinnen spielen, wenn es draußen nass, rutschig oder glatt ist. Doch wie sollen die Kinder Erfahrungen mit glitschigen Untergründen sammeln, und was würde der Gemeinde-Unfallverband bevorzugen? Die Fachkräfte finden sich oft in einem Dilemma wieder. Es ist der Balanceakt zwischen Aufsichtspflicht und Bildungsauftrag.
Wohliger Schauder
Was ist für welches Kind ein Sicherheitsrisiko, und was ist aus pädagogischer Sicht ein möglicher Schritt für das Kind, der entwicklungsfördernde Potentiale freisetzt? Die Norwegerin und Autorin des 2022 erschienenen und von mir ins Deutsche übersetzten Buches »Wild und gefährlich? Riskantes Spiel bei Kindern« Ellen Beate Hansen Sandseter definiert riskantes Spiel als spannungsreiches und herausforderndes Spiel, das Unsicherheiten und reales Verletzungsrisiko beinhaltet. Es erzeugt in Kindern einen Gefühlsmix aus Angst, Spaß, Grusel und Freude und macht Mut, in herausfordernden Spielsituationen Grenzen zu überschreiben und wichtige Lernerfahrungen zu machen. Im Freispiel beobachten wir, dass sich Kinder selbst gern in Situationen der Angstbewältigung bringen. Sie lieben Geschichten von Gespenstern, Spiele mit Licht und Schatten und andere Gruseleien, die ihnen einen wohligen Schauder bescheren und dabei helfen, in echten Angstmomenten nicht zu erstarren, sondern Bewältigungsstrategien zu nutzen.
Annette Kessler arbeitete zehn Jahre lang als Erzieherin im Elementarbereich und lehrt seit mehr als 25 Jahren an der Fachschule für Sozialpädagogik der Elisabeth-Selbert-Schule in Hameln. Als Länderfachfrau für Norwegen ermöglicht sie im Rahmen der Erasmus-Mobilitäten Aufenthalte und Praxisphasen für Auszubildende in Oslo und Erfahrungsaustausch für Erzieher:innen mit Berufserfahrung in Kooperation mit der Dronning Mauds Minne Hochschule in Trondheim (DMMH).
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2024 lesen.