Warum Draußenlesen und -lernen stark macht
Im Frühsommer 2024 führten die Biologin Johanna Pareigis und die Kreisfachberaterin für Kulturelle Bildung Sylva Brit Jürgensen mit einer Grundschule in einem Flensburger Brennpunkt ein Projekt zur Leseförderung mittels Draußenlernen durch. Dafür begleiteten sie 21 Kinder einer jahrgangsübergreifenden Eingangsklasse, zusammen mit deren Klassenlehrerin Hanna Rehbehn, einer Inklusionspädagogin und einem Sonderpädagogen sieben Wochen lang an je einem Tag in den Wald. Das von der Initiative »Schule trifft Kultur – Kultur trifft Schule« des Landes Schleswig-Holstein und der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald Schleswig-Holstein geförderte Projekt ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Draußenschule und Draußenlernen jedes Kind bereichert. Was genau sie im Wald erlebten, berichtet Johanna Pareigis.
Das Mädchen hat lange schwarze Haare und eine zarte Figur. Mit ihrem weißen Spitzenkleid würde sie eher auf eine Familienfeier passen als in den Wald. Von ihrer Klassenlehrerin Hanna Rehbehn erfahre ich, dass sie aus Afghanistan stammt und wie die meisten ihrer Klasse einen Namen trägt, den ich noch nie gehört habe. Dreiviertel der Kinder oder ihrer Familien stammen nicht aus Deutschland. Fünf Kinder haben sonderpädagogischen Förderbedarf. Das Mädchen im weißen Kleid ist nicht die Einzige, die für den kühlen Wald, wo uns Mutter Erde in Gestalt von morschem Holz, schleimigen Nacktschnecken und stechenden Mücken begegnet, wenig angemessen gekleidet ist. Wir lassen den Kindern die Zeit, sich in ihrem Tempo mit dem Wald und all dem, was sich hier entdecken lässt – Regenwürmer, Eierschalen, Federn, Pilze, Erdkröten, Mücken oder Tausendfüßler –, vertraut zu machen. Am Ende des ersten Tages resümieren wir Begleiter:innen, dass wir kleine Schritte gehen und wertschätzen wollen.
Mehr als dicke Muskeln
Die Möglichkeit, sich frei im Wald zu bewegen, statt am immer selben Platz in der Schule zu sitzen, sollte den Bezug der Kinder zur realen Welt, ihre Lust am Sprechen, Lesen, Erinnern und Spielen stärken. Das Spiel verstehen wir dabei nicht als Belohnung oder Zugabe, sondern als wichtige Grundlage zur Stärkung von Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen sowie der »Vier K«s des Lernens: Kommunikation, Kooperation, Kritisches Denken und Kreativität. Sieben Tage in sieben Wochen war der zeitliche Rahmen unseres Leseprojekts mit dem Titel »Wer ist die Stärkste im ganzen Land? Draußen – Aktiv – Lesen«, mit dem Ziel, Themen aus dem Buch »Der Stärkste im ganzen Land« aufzugreifen, zu erleben und als Aufführung anlässlich des zu Projektende geplanten Schulfestes aufzuführen. Die Geschichte von einem Wolf, der sich solange angeberisch als Stärkster im ganzen Land aufführt, bis der kleine Quabbelwabbel ihn infrage stellt, weil er findet, dass seine Mutter die Stärkste ist, hatten wir gezielt ausgewählt. Mit ihr wollten wir den Kindern, von denen viele schwierige Lebenssituationen mitbrachten und mit geistigen, sozialen oder starken seelischen Einschränkungen lebten, die Erfahrung ermöglichen, dass es mehr Formen der Stärke gibt als dicke Muskeln, eine laute Stimme oder vermeintlich starkes, im Grunde aber unkontrolliertes Verhalten. Bereits am ersten Tag fanden wir mit unserem »Blick-Battle« heraus, dass es eine Stärke ist, einem Gegenüber in die Augen zu schauen, dem Blick nicht auszuweichen und dabei nicht zu zwinkern oder zu lachen. Tatsächlich waren die Kinder nicht nur sehr gut im »Nicht-Zwinkern«, sondern hatten auch Freude an dieser besonderen Art der Augenblicke und daran, diese in der Abschlussrunde mit allen teilen.
Johanna Pareigis ist promovierte Biologin, Gärtnerin, Wildnispädagogin, Coach, Autorin und als Kulturvermittlerin sowie als NUN-Bildungspartnerin für Bildung für Nachhaltige Entwicklung zertifiziert. 2018 rief sie »Die Bewegung LERNEN im Freien« ins Leben. Sie macht Natur- und Kulturprojekte draußen und hält Vorträge, Workshops und Fortbildungen u.a. zum Draußenlernen. Termine zu den von ihr organisierten Online-Austauschtreffen und den internationalen Tagungen zum Thema »Draußen macht Schule zukunftsfähig« – 2024 mit dem Fokus auf »Transformation und Wandel durch Draußenlernen« und in Planung für 2025 mit »Draußenlernen im urbanen Raum« – bietet die Website www.draussenlernen.net.
Kontakt
www.JohannaPareigis.de
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2024 lesen.