Lerngeschichten aus dem Kinder-Garten
Als wir die Expertin für Qualität im Situationsansatz und leidenschaftliche Schreiberin von Lerngeschichten Gerlinde Ries-Schemainda für einen Beitrag über Lerngeschichten in einer Ausgabe der Betrifft KINDER rund um das Thema Erde anfragten, zögerte sie nicht, eine ihrer Lerngeschichten, die sie für einen Jungen in dem von ihr geleiteten Kinder-Garten schrieb, für uns herauszusuchen. Mit ihrem Beitrag öffnet sie eine Perspektive auf die Überraschungsmomente beim Beobachten und Reflektieren des Tuns und Lernens von Kindern und erinnert nicht nur an die wichtigsten Fragen der Kinder, sondern auch daran, dass wir diese als Kompass für eine gelungene Umgebung nutzen können.
Drei Jungen sind im Waschraum einer Kita beschäftigt. Vor ihnen stehen 25 Paar Gummistiefel, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt sind. In diesem Agenblick betritt ihr Erzieher den Raum. Er kann die Szene, die sich vor seinen Augen abspielt, nicht einschätzen. Im ersten Moment denkt er: »Auch das noch, kurz vor meiner Mittagspause. Das darf doch nicht wahr sein. Wie kommen die denn auf eine solche Idee?« Statt ein Donnerwetter loszulassen, atmete er einmal tief durch und fragt die Jungen, was sie zu ihrem Tun bewegt hat. Zu seinem Staunen bestätigt ihre Antwort seine intuitive Zurückhaltung. Die drei Jungen wollten der möglichen Wiederholung eines Erlebnisses aus der vergangenen Woche zuvorkommen. Einer ihrer Freund hatte bei Regenwetter draußen gespielt und nach einer Weile bemerkt, dass er nasse Füße bekam. Seine Gummistiefel hatten ein Loch. Wie es hineingekommen war, ließ sich nicht klären. Folglich überprüften die drei Jungen sämtliche weiteren Gummistiefel auf ihre Wassertauglichkeit. Für sie war dieser Vorgang eine logische Schlussfolgerung, um andere Kinder vor der Erfahrung ihres Freundes zu bewahren. Wie ungerecht sie sich behandelt gefühlt hätten, wenn der Erzieher seinem ersten Impuls gefolgt wäre, können wir nur ahnen.
Diese Geschichte erzählte der Diplom- Pädagoge und Freinet-Experte Lothar Klein einmal auf einem Fachtag. Sie fällt mir immer wieder ein, wenn ich erlebe, dass Kinder nicht nur anders denken als wir Erwachsene, sondern auch anders, als wir es vermuten bzw. anders, als wir es vielleicht gerne hätten. Zudem haben nicht alle Kinder die gleichen Denkmuster und nicht einmal immer dieselben. In manchen Situationen denken sie anders als in anderen, obwohl sie sich in einer ähnlichen Situation befinden. Uns Erwachsenen fällt es manchmal schwer, ihre Anliegen zu erkennen – auch, weil wir häufig eingeschränkte Vorstellungen davon haben, was Kinder können und was sie gegenwärtig interessiert, und weil wir ihnen hin und wieder unterstellen, sie wollten Unfug anrichten.
Lerndispositionen
Bei der Frage, was uns helfen kann, die Anliegen der Kinder angemessener zu deuten, möchte ich auf die sogenannten Learning Stories, die neuseeländischen Lerngeschichten zu sprechen kommen. Die Expertin für frühe Bildung und Lerngeschichten Kornelia Schneider beschreibt sie als »eine aufbauende, aktivierende und gestaltende Form von Einschätzung und Bewertung des Lernens, die im Prozess des Handelns geschieht und weitere Prozesse in Gang setzt.«1 Bei dieser Art von Evaluation werden Aspekte wie Wissen und Können, aber auch Lerndispositionen sichtbar, auf deren Basis Kinder ebenso wie pädagogische Fachkräfte ihr weiteres Lernen auf- und ausbauen können. Bei den Lerndispositionen geht es um weit mehr als um das Aneignen von Fertigkeiten und Wissensaneignung. Es geht um die Qualitäten der Aneignung, also um die Frage, wie das Kind zu seinen Erkenntnissen gelangt, wie es sich Wissen aneignet, welche Lernstrategien es dazu nutzt. Die Geschichte mit den Gummistiefeln wird aus dieser Sicht als Lerngelegenheit definiert und nicht als etwas, das zu kritisieren und zu ändern wäre. Die drei Jungen übernahmen mit ihrem Tun Verantwortung für die Lerngemeinschaft. Sie zeigten Interesse an dem Geschehen »undichte Gummistiefel«, suchten engagiert nach einer Möglichkeit, dieses in Zukunft zu verhindern, und überlegten sich eine Strategie dazu. Sie tauschten sich aus, teilten ihre Ideen und fanden eine Lösung, die für alle sinnvoll erschien. Eine Lerngeschichte darüber könnte dazu anregen, mit den drei Jungen gelegentlich zu überlegen, ob es noch weitere Möglichkeiten gibt, die Wassertauglichkeit von Gummistiefeln festzustellen, und Lernprozesse in Gang zu setzen, an die bis dahin niemand gedacht hat.
1 Schneider K. (2019): Mit Lerngeschichten wachsen. Reflexionen – Ansporn – Entwicklun- gen. verlag das netz, S. 167
Gerlinde Ries-Schemainda leitete das Katholische Familienzentrum – Kindertagesstätte St. Sebastian. Heute ist die Autorin zahlreicher Fachpublikationen in der Weiterbildung »Fachkraft für den Situationsansatz« tätig, gibt Kurse zu »Qualifizierter Praxisanleitung« und engagiert sich innerhalb des Netzwerkes zur Weiterentwicklung des Situationsansatzes für die Durchführung regelmäßiger Werkstatt-Dialoge des Bundesnetzwerks Situationsansatz. Dieser online-Austausch zu praxisnahen Themen wie »Das letzte Jahr im Kindergarten – Muss die Vorbereitung auf die Schule immer dröge sein?« ist kostenfrei und dauert jeweils 1,5 Stunden. Informationen dazu und weiteren Angeboten des Institutes für den Situationsansatz bietet die Website https://situationsansatz.de/w-ista/ (unter »Aktuelle Termine«). Zum Thema Neuseeländische Lerngeschichten empfiehlt sie das 2019 bei verlag das netz erschienene Mit Lerngeschichten wachsen. von Kornelia Schneider: »Durch das Buch zieht sich ein roter Faden der Leichtigkeit und der Freude auf das Arbeiten mit Lerngeschichten. Kornelia Schneider nimmt den Druck, alle Arbeitsschritte akribisch befolgen und ausarbeiten zu müssen. Dies ist eine spürbare Weiterentwicklung hinsichtlich der Implementierung des wunderbaren Beobachtungs-, Dokumentations- und Reflexionsinstrumentes. Die Praxisbeispiele lenken unseren Blick noch mehr auf das Kind, seine Themen und Interessen und weiteren Entwicklungsschritte. Das Buch macht neugierig darauf, eigene Beobachtungen des Lernens der Kinder in Form einer gestalteten Lerngeschichte mit den Teamkolleg:innen, den Eltern und vor allem mit den Kindern zu teilen.« Weitere Informationen auf https://learningstories.jimdofree.com.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2024 lesen.