Die digitalen Medien verändern das Leben in der Familie tiefgreifend. Claus Jensen hat sich auf Spurensuche in seiner dänischen Nachbarschaft begeben und positive wie negative Abdrücke gefunden.
Krach! Bumm! Krach! Von der linken Seite des Bildes sind laute Geräusche zu hören. Es ist nicht ganz klar, was sie verursacht, aber es könnte sich um Stühle und Tische handeln, die herumgeschoben werden. Von außen betrachtet mag es etwas seltsam erscheinen. Wenn man länger dranbleibt, ergibt das Ganze mehr Sinn. Wir befinden uns bei einem Großelternpaar, die nebeneinander auf ihrem Sofa das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgen. Ihnen zuliebe rumpelt es im Wohnzimmer. Dabei liegen hunderte von Kilometern zwischen den Großeltern und der Verursacherin des Lärms. Und doch schaffen sie jetzt einen gemeinsamen Raum. Genauer gesagt: Oma und Opa bilden das Publikum, und Eva, ihre Enkelin, bereitet die Bühne vor. Immer wieder sieht man sie hin und her rennen, Dinge im Zimmer ändern und für ihren Auftritt anordnen.
Zu Besuch bei Eva und Gretha
Eva hat etwas Neues gelernt, das die Großeltern noch nicht gesehen haben. Deshalb hat ihre Mutter ihr geholfen, über den Chatdienst Facetime die Verbindung zu den Großeltern herzustellen. Das Telefon mit der Kamera wurde an genau der richtigen Stelle platziert. Eva geht nah an das Handy heran, winkt den Großeltern freudig zu und bittet sie, gut aufzupassen. Wieder verschwindet sie aus dem Bild, kommt aber schnell wieder zurück – und los geht’s! Sie betritt die Szene, die sie geschaffen hat, und schlägt zwei Räder hintereinander. Zum Glück ist das Ganze auf dem Bildschirm der Großeltern gut zu sehen, und das Kunststück kann mit Applaus und Rufen belohnt werden. Eva wiederholt das Rad viele Male. Sie macht Opa und Oma auf Details und Schwierigkeiten aufmerksam, und die beiden reagieren mit Vorschlägen, wie sie ihre neue Kunst noch verbessern kann. Dann ist es vorbei, Eva hat keine Energie mehr fürs Turnen. Bald gibt es Essen, und danach muss sie ins Bett. Luftküsse fliegen hin und her, und die Mutter schaltet das Handy aus.
Die kleine Schwester Gretha ist noch zu klein, um wie Eva als Turnerin, Künstlerin und Regisseurin, aufzutreten. Aber sie genießt es, auf dem Schoß der Mutter zu sitzen und die Großeltern auf dem Bildschirm zu beobachten. Heute hat die Mutter den Computerbildschirm angeschlossen, sodass die Großeltern gut erkennbare Gesprächspartner:innen sind. Das macht die Familie häufig: Sie tauschen Neuigkeiten aus, sprechen darüber, wie es ihnen geht, und manchmal werden kleine Videos geteilt: z.B. von dem Tag, an dem sie zum See gegangen sind, um die Schwäne zu sehen. Oder von dem Sonntag, an dem sie auf dem Spielplatz im Park waren. In einer Ecke gab es ein Wasserloch, das so tief war, dass das Wasser in Grethas Gummistiefel gelaufen ist. Auch dieses Erlebnis wird vor den Augen der Großeltern neu abgespielt.
Obwohl es um sie geht, verfolgt Gretha das Geschehen meist am Rande. Sie sitzt mit einem großen, saftigen Apfel da und kaut genüsslich. Als Opa spricht, schaut sie ihn plötzlich intensiv an und knallt den halb aufgegessenen Apfel auf die Tastatur. Sie will, dass Opa auch mal abbeißt, und versucht daher ein Experiment: Schafft es der Apfel, über die Tastatur bis zu Opa zu gelangen?
Die Bildschirm-Großeltern aus Kanada
In Evas und Grethas Familie wird der Kontakt zu den Großeltern größtenteils über digitale Hilfsmittel aufrechterhalten. Der Kontakt hat sich während der ersten Jahre der Kindheit so entwickelt, dass in der Regel die beiden Kinder entscheiden, wann es ein Gespräch über Facetime gibt. Das ist dann der Fall, wenn sie eine Geschichte zu erzählen haben oder den Großeltern etwas zeigen wollen. An manchen Tagen sind solche Begegnungen sehr kurz, an anderen Tagen dauern sie länger. Die Großeltern haben schöne Kinderbücher, die Eva und Gretha von ihren Besuchen her kennen, und so kann der Anruf eine Bitte sein, dass Oma oder Opa ihnen aus einem bestimmten Buch vorliest. Nicht jedes Mal haben die Großeltern Zeit, lange vorzulesen, zuzuhören oder zuzusehen. Aber die Zeit reicht fast immer, einander kurz zu sehen und zu grüßen – auch wenn man im Bus sitzt oder im Supermarkt einkauft.
Die Großeltern mütterlicherseits sind nicht mehr berufstätig und daher recht flexibel. Etwas schwieriger wird es, den Kontakt zu den Großeltern väterlicherseits zu halten. Eric, Grethas und Evas Vater, ist in Kanada aufgewachsen, daher leben die Großeltern am anderen Ende der Welt. Sie können sich nur selten sehen. Die Möglichkeit, online kostenlos und mit Kamera zu telefonieren, erleichtert den Kontakt. Die Großeltern aus Kanada sprechen Englisch und verstehen kein Dänisch. Das macht die Kommunikation natürlich etwas schwieriger. Für beide Elternteile war es wichtig, dass die Kinder ein gutes Verständnis für beide Sprachen und Kulturen entwickeln. Vom ersten Tag an hat Eric daher Englisch mit ihnen gesprochen, und Anna, die Mutter, Dänisch. Dass die Kinder bilingual aufwachsen, ermöglicht es Erics Eltern, sich in den Alltag der Kinder einzufühlen. Die Kinder sind mit der Sprache vertraut, die der väterliche Teil ihrer Familie spricht, und verstehen, was ihre Oma und ihr Opa sagen.
Claus Jensen ist Redakteur von Kinder in Europa heute. Er lebt in Dänemark.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa heute 06/24 lesen.